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Freitag, 26. April 2013

Empörung in Košice – Wie die Tagesschau die Kulturhauptstadt verärgert





„Wie nehmen die Bewohner von Košice ihren Titel als Kulturhauptstadt wahr?“, werde ich oft von meinen deutschen Bekannten gefragt. Spätestens seit Januar steht die Kulturhauptstadt im medialen Rampenlicht. So viel Aufmerksamkeit ist sie nicht gewohnt. – So viel Kritik ebenso wenig.
Der eine Bevölkerungsteil beäugt mit Sarkasmus, aber heiterer Miene die offenen Baustellen in der Stadt. Die schwarzen Plakate mit pinker Aufschrift „Košice, Europäische Kulturhauptstadt“, die meterhoch die grauen Wände der Innenstadt schmücken, deuten auf Bombastisches hin. Hoffentlich werde wenigstens eines der großangelegten Projekte zum Ende des Kulturjahres fertig, rechtzeitig, wenn alle Touristen längst wieder abgereist seien, so die Kommentare.
Der andere Teil wirkt weniger amüsiert. Die Kränkung über die ausländische Auseinandersetzung mit der „Kulturhauptstadt Košice“ sitzt tief. Die ausländische Berichterstattung sei hart und ungerecht. Westliche Journalisten würden den Titel der Kulturhauptstadt bloß als Vorwand nutzen. Statt von den historischen und kulturellen Reichtürmern der Stadt zu berichten, seien sie in Wirklichkeit bloß scharf auf die wuchernden Roma-Ghettos in und um Košice. 
Dabei habe die Stadt so viel mehr zu bieten: Košice, das erstmals im Jahre 1230 schriftliche Erwähnung fand, dessen St.-Elisabeth-Dom die größte Kirche der gesamten Slowakei sowie zugleich das östlichste Bauwerk der europäischen Hochgotik darstellt! Košice, die Stadt, die seit jeher Ungarn, Slowaken, Juden, Deutsche und Ruthenen friedlich unter einem Dach beherbergt und von multikultureller Vielfalt gerade nur so sprüht! Warum bloß wollen die Ausländer immerzu die Lage der „Zigeuner“ thematisieren?
Ein Blick in die deutsche Berichterstattung über die „Kulturhauptstadt Košice“ zeigt zu Recht: Die Artikel sind voller Schreckensberichte über die Situation der hier lebenden Roma.
Im Tagesthemen-Bericht vom 20. Januar 2013, am Tag nach der Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt, lautet es sogleich am Anfang: „Die slowakische Stadt Kosice ist neben dem französischen Marseille jetzt offiziell europäische Kulturhauptstadt. […] Rund um Kosice herrscht große Armut. Die ärmsten der Armen sind die Roma.“
Schätzungen zufolge leben 25.000 Roma in Košice, rund 10 Prozent der Stadtbevölkerung. Längst ist das Wohnblockviertel "Lunik IX" zum Inbegriff der Roma-Problematik in Kosice geworden. Es ist Ende der 1970er Jahre entstanden und zählt zu den jüngsten Plattenbausiedlungen der Stadt. – Doch Häuser, die ähnlich zerstört sind, findet man hier kaum. Fehlende Fenster, ausgebrannte Türen, Müllberge stauen sich vor den grauen Betonbauten. In der ursprünglich für 2400 Bewohner gebauten Wohnsiedlung, leben heute schätzungsweise 7000 Menschen – oder mehr. So genau kann das keiner sagen, denn fast jemand traut sich dort hin. In einem Haushalt leben durchschnittlich 12-14 Personen. Nahezu alle Lunik IX-Bewohner gehören der Roma-Bevölkerung an. In den 498 Wohnungen zahlt so gut wie niemand Miete. Als Konsequenz hat die Stadt dauerhaft fließendes Trinkwasser, den Strom und die Heizung abgestellt. 
Auch der Artikel der Onlineausgabe der TAZ vom 23.03.2013 kritisiert die Situation der Ghettoisierung der Roma aufs Schärfste: „In Lunik IX sind die Fassaden längst abgefallen und der Kulturhauptstadt Kosice, die so stolz auf ihre Minderheitenvielfalt ist, ist es offensichtlich völlig egal, dass sich mitten in ihrer Stadt eine Tragödie abspielt, die das ganze Kulturmarketing von Košice als den eigentlichen Schandfleck erscheinen lässt.“
Ich glaube den Bewohnern ist die Situation der Roma alles andere als egal. Aber gerne reden sie nicht darüber, wie auch die Vizebürgermeisterin Renata Lenartová im Bericht auf 3sat eingesteht. 
Die Ratlosigkeit der Bevölkerung spiegelt sich in abstrusen Lösungsvorschlägen wider: von Deportationen nach Indien, bereits durchgeführten Sterilisationen von Roma-Frauen gegen Geld bis hin zum Vorschlag einer ansässigen Bewohnerin „auf Lunik IX müsse man eine Bombe abwerfen“.
Vermutlich hofft die Kauschauer Bevölkerung darauf, dass sich das Problem alsbald von selbst löst. Jährlich verlassen zig Familien das Ghetto und suchen bessere Lebensbedingungen in den westlichen Ländern der Europäischen Union. Die Schuldirektorin Anna Koptová, die fast ausschließlich Kinder aus Lunik IX unterrichtet, spricht von sechs Roma-Kindern, die im Laufe des letzten Schuljahres die Klasse verlassen haben. Dänemark, Schweden, Niederlande, England und Deutschland sind beliebte Ziele. – Das „Roma-Problem“ ist längst ein Europäisches.


Stelle ich einem Bewohner der Stadt Košice die Frage, ob er eine Idee habe, was zu tun sei gegen die Armut, die fehlende Bildung und die grassierende Arbeitslosigkeit der Roma, nimmt unser Gespräch eine rasante emotionale Wendung. Unsere Diskussion endet dabei immer mit der Erzählung eines persönlich erlebten Negativerlebnisses mit einem Roma. Am Ende eines jeden Zwiegesprächs komme ich mir hilflos vor.
Ausländische Journalisten und auch ich haben selbstverständlich nur unsere Außenperspektive. Es ist die beschränkte Sicht auf ein Problem, welches seine lange Vorgeschichte hat. Selbstverständlich ist es plakativ und medienwirksam auf die Schnelle nach Lunik IX zu fahren und dort die Armut zu filmen. Schwieriger ist es, sich dem Thema auf vielschichtige Weise zu nähern. 
Wir kennen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen kaum. Wir gehen nicht zur pränatalen Vorsorge und sehen zu, wie sich ein minderjähriges, hochschwangeres Roma-Mädchen ohne Ausweis, ohne Versichertenkarte zu ihrer ersten Kontrolle bei einer Frauenärztin vorstellt.
Wir ausländische Journalisten sind finanziell besser gestellt. Wir können selbstverständlich nicht beurteilen, wie es ist, nach über 40 Arbeitsjahren mit einer Rente von 200 € monatlich auszukommen. Wir müssen nicht beim Sozialamt Schlange stehen und zusehen, wie arbeitslose Roma-Eltern mit einer ganzen Kinderschar auftauchen und vor uns Sozialhilfe einkassieren. – Und nein, wir sind auf unserer kurzen Durchreise durch die Ostslowakei nicht zufällig von kleinen unschuldig dreinblickenden Roma-Kindern auf ganz hinterhältige Weise bestohlen worden. 
Aber dennoch sehen auch wir Ausländer die rauchenden Trabentensiedlungen auf dem Land, sehen die Müllberge, in denen Roma leben. Wir sehen die Löcher in den Wänden, die Roma (etwa mutwillig?!) ausgebrannt haben. Wir erschrecken, dass selbst schon ein Kindergartenkind zu wissen glaubt, dass „alle Zigeuner stinken und asozial sind“. – Wie können wir da wegsehen, weghören?
Nicht zuletzt graut es gerade uns deutschen Journalisten ganz besonders vor gesellschaftlich akzeptieren Unterscheidungen zwischen „Weißen“ und „Zigeunern“. Ethnische Bezeichnungen fallen hier alltäglich und so natürlich, dass die Bewohner von Košice diese gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Genau dafür ist der „Blick der Fremde“ gut. Auch wenn er manchmal schmerzhaft ist.
Und doch: Das Kulturhauptstadtjahr Košice bietet eine Plattform für Roma. Ihre Einbindung in das kulturelle Programm ist zumindest in Ansätzen vorhanden. Sie geht über musikalische Einlagen hinaus, wie nicht zuletzt eine im Frühjahr realisierte Foto-Ausstellung „The Real People“ anschaulich darstellt. Sie zeigt keine „Zigeuner“, sondern eine Reihe integrierter Bürger unterschiedlicher Berufe mit Roma-Hintergrund. Solche Initiativen sind kleine Ansätze. Aber sie sind wichtig. Mehr davon!
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