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Donnerstag, 22. August 2013

Pravda – Wahrheit


Der 21. August erinnert an den Einfall der Armeen des Warschauer Paktes (UdSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien) in die ehemalige Tschechoslowakei. Die Okkupation des Landes sollte die Reformversuche der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček aufhalten, der eine Liberalisierung und Demokratisierung des sozialistischen Regimes anstrebte.

In Košice erinnern sich viele Zeitzeugen an den Einfall der sowjetischen Armee, als wäre er erst gestern geschehen. Auf der Fußgängerzone von Kaschau berichteten mir die Einwohner am gestrigen Tag von ihren Erlebnissen. Eine neue Tafel wurde zum Gedenken an die getöteten Bürger von Košice angebracht. Viele Menschen kamen anlässlich dieses Ereignisses zusammen. Nur eine Person fehlte, an die ich am vergangenen Tag unentwegt denken musste: Tibor Kováč.

Ich erinnere mich genau, wie aufgeregt ich gewesen bin, als ich das erste Mal den 76-jährigen Herrn im Seniorenheim besuchte. Tibor Kováč saß in seinem Rollstuhl und sah auf, als ich sein Zimmer betrat. Erst wenig später fiel mir auf, dass er an mir vorbei lugte. Denn der ältere Herr war nahezu blind. Er forderte mich lächelnd auf, mich zu setzen, was bei mir zunächst für Ratlosigkeit sorgte, denn in dem kleinen Zimmer mit dem ockerfarbenen, glänzenden PVC-Boden stand nichts außer einem Schrank, einem Bett, einem mobilen Beistelltisch und einem Tresor.

So setzte ich mich ans Fußende des Bettes und stellte mich behutsam meinem Gegenüber vor. Dieser wollte ganz genau wissen, mit wem er es zu tun hatte und fragte mich sogleich nach meinem Presseausweis. „Ich kann Ihnen auch meinen zeigen, wenn Sie wollen, ich habe ihn immer noch“, sagte der Mann und kramte etwas unbeholfen in der kleinen gelben Tasche, die er an einem Band unter dem Hemd versteckt hielt. 

Schließlich, als ich ihm erzählte, dass ich als Stadtschreiberin in Kaschau tätig bin, erhellte sich seine Miene. „Da haben wir etwas gemeinsam, Fräulein Kristina, ich darf Sie doch so nennen, oder sind Sie etwa verheiratet?“ Für einen kurzen Moment huschte ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht und ich stellte mir vor, wie gut Tibor Kováč in seinen jungen Jahren ausgesehen haben muss. - Damals, mit 31 Jahren, während des Prager Frühlings, als er noch flink und frei auf den Beinen stand und für das Technische Museum in Košice fotografierte. Ich sah ihn vor meinen Augen, wie er sich im Künstlerclub mit seiner Clique, allesamt abstrakte Künstler, traf und wie sie dort begeistert, heimlich flüsternd Alexander Dubčeks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" diskutierten.

 „Wissen Sie, Fräulein Kristina, wir haben etwas gemeinsam…“, er legte eine bedächtige Pause ein und hob den Zeigefinger: „Beide sind wir Tageschronisten. Beide dokumentieren wir den Alltag in Kaschau. Allein schon aus diesem Grund bin ich verpflichtet, Ihnen jede Frage nach besten Wissen und Gewissen zu beantworten. Das ist meine Pflicht als Journalist gegenüber der Öffentlichkeit!“ Mit feierlicher Miene und einem nachdrücklichen Ruck lehnte er sich in seinem Rollstuhl zurück. Es trat eine kleine Pause ein und ich konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen. Ich war ehrlich begeistert.

„Ich habe noch bis vor kurzem täglich die Stadt fotografisch dokumentiert. Unabhängig davon, was mir damals zugestoßen ist, “ sagte Kováč und zeigte erklärend auf sich und seinen Rollstuhl herunter. Der Tag des 21. August 1968, vor genau 45 Jahren, sollte Tibor Kováčs Leben verändern. Da sich Košice nahe der ukrainischen Grenze befindet, erreichten die russischen Panzer die Innenstadt bereits gegen vier Uhr in der Früh. Niemand hatte mit einer Besatzung des „Brudervolkes“ gerechnet. „Ich erinnere mich an jenen Tag, wie heute. Das sind schreckliche Momente. Zufällig habe ich am Morgen um 8 Uhr die Nachrichten im Radio gehört. Erst dachte ich, es handele sich um ein Hörspiel. Dann kam ich aber schnell darauf, dass es um eine ernste Sache geht. Ich packte geschwind meinen Fotoapparat ein und eilte in die Innenstadt, wo ich schon einen großer Menschenauflauf vorfand.“

Etwa 1200 Menschen versammelten sich auf einer Kreuzung, als Tibor Kováč zu früher Stunde den Ort des Geschehens erreichte. Protestplakate wurden hochgehalten „Wir sind für Dubček“, „Es lebe die Freiheit“ „Es lebe die Demokratie“. Pikanterweise protestierten die Menschen an jenem Morgen auf dem „Platz der Befreier“ gegen die russische Armee, genau an jenem Ort, auf dem ein gigantisches Denkmal an die sowjetischen Soldaten erinnert, die zum Kriegsende von 1945 die Stadt befreiten.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
Kováč sah viele ratlose Gesichter angesichts der rollenden Panzer, die in Reih und Glied an den Einwohnern von Košice vorbezogen. Dennoch blieb es bis auf einige Backsteinwerfer relativ friedlich auf dem Platz. Einige Menschen versuchten mit den russischen Soldaten zu diskutieren, andere boten ihnen hämisch Brot und Salz an, ein gebräuchlicher Willkommensgruß.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
„Die Russen waren total desorientiert. Sie erwarteten einen militärischen Aufstand. In einem Transistorradio hörte ich, dass die Rede von einer Konterrevolution war, “ erinnerte sich Kováč. Er fotografierte die Ereignisse, bis er gegen 11.30 Uhr den Platz verließ, um Batterien für seinen Fotoapparat zu wechseln. Kurz darauf kehrte er wieder zurück. Inzwischen war die friedliche Stimmung gekippt. „Ein Junge hat einen Stein auf einen Panzer geworfen, daraufhin wurde er erschossen. Nachdem der erste Schuss in die Menschenmenge gefallen ist, ist die Situation eskaliert. Die Leute fingen an die Panzer anzuzünden und die militärischen Wagen umzuwerfen, “ fuhr er fort.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968

Das letzte Motiv, welches Tibor Kováč an jenem Tag aufnahm, war jenes eines Panzers: im Hintergrund war ein Gebäude auf dem „Platz der Befreier“ zu sehen. Auf dem Dach des Hauses war die Aufschrift „Pravda“ (Wahrheit) angebracht, der Schriftzug einer Tageszeitung. Seine Fotografien ließ er noch am selben Tag in seinem Fotolabor entwickeln.

Am Abend auf dem Heimweg kehrte er zurück zum „Platz der Befreier“. Inzwischen war kaum eine Menschenseele zu sehen. Stille war eingekehrt. Einige letzte Panzer rollten über die Straße. „Ich wollte die letzte Straßenbahn nehmen. Dann plötzlich hörte ich ein Knacken, “ sagte Kováč. Es war 20.10 Uhr. Eine Kugel hatte den Fotografen im Kopf getroffen.

Tibor Kováč überlebte den Kopfschuss. Ärzte kämpften tagelang um sein Leben. Eine Freundin hatte ihm vier Tage später seine Aufnahmen vom 21. August ins Krankenhaus geschmuggelt. „Damit haben wir ein Stück Kaschauer Geschichte in Sicherheit gebracht!“, sagte er heute mit Abstand. Es gelang ihm bis zum Mauerfall die Fotografien versteckt zu halten. Von der Geheimpolizei wurden er und sein Umfeld aber mehrmals verhört.


Als ich ihn bei einem anderen Besuch bat, mir seine Fotografien vom Tag der Besatzung zu zeigen, veränderte Kováč augenblicklich die Miene und mahnte mich leiser zu sprechen. „Wir werden alle überwacht“, raunte er mit Furcht in der Stimme. Seine körperliche Verletzung ist ihm anzusehen. Doch was die vielen Jahre des real existierenden Sozialismus psychisch in ihm auslösten, bleibt für die Augen unsichtbar.

Tibor Kováč stellte seine Fotografien erstmalig im Jahr 2000 im Technischen Museum von Košice aus. Eine Entschädigung hat er nie erhalten. Er lebt heute zurückgezogen in einem Seniorenheim.

Aufschrift: Kováč R-O-V - Hackfleisch
Bei Protesten der Zivilbevölkerung im Zuge der Besetzung starben in der Slowakei 29 Menschen. In Košice starben am Tag der Invasion sechs Bürger und mindestens 57 Personen wurden verletzt.

Anmerkung: alle Fotografien dürfen mit freundlicher Genehmigung von Tibor Kováč auf dieser Seite veröffentlicht werden.

Weitere, erstmalig veröffentliche Fotografien sind hier zu finden.

Filmaufnahmen vom Einfall der sowjetischen Armee in die Stadt Kaschau am 21.08.1968

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Sonntag, 19. Mai 2013

Krieg der Sterne in Košice


Man muss nicht lange suchen, um in Košice auf Spuren des Kommunismus zu stoßen. Sie sind allgegenwärtig. Die Plattenbausiedlungen, die sich auf den Hängen rund um den Stadtkessel erstrecken, sind das markanteste Zeugnis ihrer Zeit. Viele Straßennamen oder sogar ganze Bezirke in Košice erinnern an die Ära des Kaltes Kriegs – den „Krieg der Sterne“.

Mein Spaziergang durch den Stadtteil Nad Jazerom gleicht einer Reise durchs Weltall: über den Platz der Kosmonauten gelange ich auf die Raketenstraße, diese führt mich über die Sputnikstraße zum Gagarinplatz. – Von meiner Erkundung auf der Galaktischen Straße habe ich erst kürzlich berichtet.

Die gigantischen Plattenbausiedlungen Lunik I-IX westlich der Altstadt von Košice schossen zwischen 1962 und 1972 aus der Erde. Sie sind benannt nach den sowjetischen Mondsonden, die die Vormachtstellung der UdSSR gegenüber dem kapitalistischen Westen unter Beweis stellen sollten. Auslöser für ihren Bau war die Errichtung des Ostslowakischen Stahlwerks (Východoslovenské železiarne, VSŽ). Das staatliche Unternehmen wurde 1959 gegründet. Der größte Metallurgie-Produzent der Tschechoslowakei beschäftigte zeitweise bis zu 30.000 Arbeiter. Nach der Wende brachte die Regierung Mečiar das Unternehmen mit Korruptionsaffären und Vetternwirtschaft in Verruf. 2000 rettete der Pittsburgher Stahlkonzern U.S. Steel mit seinem Kauf das vor Insolvenz bedrohte Unternehmen. Heute ist U.S. Steel der größte Arbeitgeber in der Ostslowakei.

Die Gründung des Stahlwerks VSŽ ist eng verbunden mit dem starken Bevölkerungswachstum seit 1960. Binnen zehn Jahren sprang die Einwohneranzahl in Košice von 79.400 auf 142.200. Zehntausende Wohneinheiten entstanden im Zuge des gigantischen Wohnbauprogramms, das größte in der Geschichte der Slowakei. Weitere städtische Bauprojekte wurden realisiert. Einkaufszentren, Sport- und Kultureinrichtungen sollten dem „Neuen Menschen“ das Leben in seinem funktionalen Habitat wohnlich gestalten. 


Der 22-tausend Quadratmeter große Betonbau des „Weißen Hauses“, ehemaliger Sitz des regionalen Komitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, thront inmitten des neuen Stadtviertels. Die „am schnellsten wachsende Stadt der Tschechoslowakei“ benötigte nach Ansicht der Kommunisten ein angemessenes repräsentatives Gebäude. Schließlich war man fest davon überzeugt, dass Košice bis zum Millenniumsjahr 300.000 Einwohner zählen würde. - Um 50.000 Menschen sind es tatsächlich weniger.

Der Grundstein des megalomanen Bauprojektes wurde 1979 gelegt und sechs Jahre später konnte das „Weiße Haus“ seine volle Pracht entfalten. Das Interieur mit bordeauxroten Sesselgruppen aus Velours erinnert einprägsam an die einst prunkvolle Ära. Seit der Revolution bezieht das Magistratsgebäude die städtische Verwaltung

In der Altstadt von Košice sind die kommunistischen Spuren weitaus schwieriger aufzusuchen. Peter Cábocky, ein freischaffender Künstler aus Košice, nimmt mich mit auf einen Streifzug durch die historischen Gassen des Stadtzentrums. Hier führen die Relikte aus der kommunistischen Ära ein merkwürdiges Eigenleben, unsichtbar vor dem unaufmerksamen Blick vorbeieilender Passanten.

Fortsetzung folgt...auf  "Ordensträger guter Arbeit"

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