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Mittwoch, 19. Juni 2013

Interview in der Kulturzeitung "Zajtrajšie noviny"


Als Lucia Zacharová, die Chefredakteurin der Kulturzeitung "Zajtrajšie noviny", zum ersten Mal von der Existenz einer "Stadtschreiberin" hörte, hatte sie prompt eine wunderliche, alte Dame mit einer Taube auf der Schulter vor Augen, die jeden Winkel der Stadt auswendig kennt und gerne aus dem Nähkästchen plaudert. Umso erfreuter war sie bei unserem ersten Treffen, denn ich entsprach nicht wirklich ihren Vorstellungen...

Der Artikel "Wer ist unsere Stadtschreiberin" ist hier auf Slowakisch nachzulesen, dank freundlicher Genehmigung der Zeitung "Zajtrajšie noviny". (Seite 4 der Ausgabe Nr.12) Auf der Seite befindet sich auch meine neue Rubrik, die ich von nun an mit meinen eigenen Worten im 2-Wochen-Rhythmus füllen darf. 

Das Interview in deutscher Sprache:

Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit in Košice?

Meine Erinnerungen basieren auf Fotos und Videos, die mein Großvater in seinem Ferienhaus von seinen Enkelinnen aufgenommen hatte. Ich erinnere mich zudem an Ferien auf einer Waldhütte im "Slowakischen Paradies". In meinen Kindheitsvorstellungen war die Slowakei ein Land unberührter Natur. In Košice selbst erinnere ich mich an Eiscreme aus der lokalen Kette AIDA und slowakischen kulinarischen Spezialitäten, wie einem Honigbärchen für Kinder, hausgemachten Kuchen meiner Großmutter, Apfel- und Mohnstrudel... Auf Familienfesten wurde bei uns viel gesungen. Ich habe fröhliche, familiäre und kulinarische Erinnerungen, geprägt von Erlebnissen in der Natur.

Den Honig aus der Flasche gab es schon vor über 30 Jahren
Total(itär)e Nostalgie

Ersetzte nach eurer Emigration die deutsche Sprache deine slowakische Muttersprache?

Ganz bestimmt. Als Dreijährige sprach ich recht wenig Slowakisch. Ich habe nie Unterricht in slowakischer Sprache besucht, noch habe ich je richtig die slowakische Grammatik und Rechtschreibung gelernt. In Deutschland war unser erstes Ziel sich zu integrieren und gut Deutsch zu lernen. Ich hatte sogar als Kind eine Phase, in der ich die slowakische Sprache abgelehnte. Meine Großmutter musste eine Zeitlang ein paar Brocken Deutsch lernen, damit wir uns verständigen konnten. Aber als Erwachsene ist mir bewusst geworden, dass es ein Geschenk ist eine zweite Muttersprache zu beherrschen. Mit meiner Mutter unterhalte ich mich seitdem in einem Mix aus Deutsch und Slowakisch.

Fallen dir die Veränderungen in Košice auf?

Die Stadt hat sich von der architektonischen Seite sehr verändert. Jedes Jahr wächst hier etwas Neues. Vorallem die Einkaufszentren fallen auf. Nach und nach verschwinden die kleinen Läden, obwohl einige der sozialistischen Tante-Emma-Läden immer noch existieren. Wie z.B. die Drogerie mit Verkaufstresen auf der Fleischergasse oder der Papierwarenhandel auf der Mühlengasse- und das neben den großen internationalen Ketten, die auf der ganzen Welt zu finden sind. Diese Kontraste finde ich spannend! 

Papierwarengeschäft auf der Mühlengasse
Drogerie auf der Fleischergasse
Was gefällt dir noch in der Stadt?

Ich bin ehrlich gesagt überrascht über das kulturelle Angebot, denn es wirkt wirklich großstädtisch. Zum Beispiel auf dem Festival „Use the City“ war ich beeindruckt von dem interessanten Programm, den Installationen, der Atmosphäre. Das Kulturangebot ist wirklich groß, obwohl die Stadt im Vergleich zu Hamburg ja recht klein ist. Die vielen Hinterhöfe und Gassen im historischen Zentrum haben zum Teil ein mediterranes Flair. Die Stadt könnte ebenso provinziell wirken, aber das ist sie keineswegs. Sie verdient sich ihren Titel als Kulturhauptstadt. Eine Reihe der Festivals existieren bereits seit einigen Jahren. Hier ist es ganz selbstverständlich binnen 24 Stunden ein jüdisches Klezmer Musikkonzert sowie einen Auftritt des Romathan Theaters zu erleben. Unterwegs in der Stadt vernehme ich viele Fremdprachen: ungarisch, deutsch, englisch, russisch. Das hat Großstadtcharakter!

Fühlst du dich in Košice jetzt schon zuhause?

Inzwischen schon. Dazu hat mein Fahrrad wesentlich beigetragen. Wenn ich durch die Innenstadt fahre, habe ich das Gefühl, dass es auch meine Stadt ist. Zudem verbringe ich die Sonntage bei meiner slowakischen Familie, mit der ich jetzt zum ersten Mal mehr Zeit verbringen kann.

Was ist dein Ziel während des mehrmonatigen Aufenthaltes in der Ostslowakei?

Ich schildere hier meinen persönlichen Erlebnisse in Košice. Dabei erforsche ich die Stadt aus kultureller und historischer Perspektive. Ich möchte dabei auch längst vergessene Geschichten der Stadt erzählen. Hierfür arbeite ich an einem Filmprojekt. Mich interessieren die Geschichten der Bewohner, wie sie die vielen politischen Umbrüche in der Stadt seit der ersten Tschechoslowakischen Republik (1918-1938) bis heute erlebt haben, und wie diese sie in ihrem eigenen Leben beeinflusst haben. (...)

Sind die Bewohner denn bereit ihre Erinnerungen und Ansichten preiszugeben?

Ja, die Menschen treten mir offen gegenüber, sie nehmen sich Zeit für mich. Die Leute sind hier nicht so sehr in Eile und nehmen sich auch nicht allzu ernst. Kaschauer sind selbstironisch und redebereit. Meistens ist es kein Problem mich binnen weniger Tage mit jemanden zu verabreden. Ich muss auch zugeben, dass mir meine Familie oftmals viele Türen öffnet. Hier kennt einfach jeder jeden. - Mein großes Glück.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Lucia Zacharová



Foto: Lucia Zacharová

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Freitag, 31. Mai 2013

Use the City!


Im Mai summt und musiziert es im Kaschauer Kessel. Jeden Tag pünktlich um 8 Uhr weckt mich eine weibliche Stimme, die die Tonleiter herauf und herunter singt. Ihre morgendliche Aufwärmübung ist mir inzwischen heimisch und vertraut. Wenn ich mich auf meinen blauen Pegasus schwinge und über die Promenade sause, lausche ich mit gespitzten Ohren den sanften Klängen, die aus den Musikschulen durch die geöffneten Fenster drängen. Hier der Laut einer Geige, dort trötet eine Trompete.

 - Die ganze Stadt ist ein Musikkonzert! Ein Festival jagt das nächste. Im Rahmen des „Use the City Festivals“ spielten zwischen dem 22. und 24. Mai über 40 Bands in der Innenstadt. Zahlreiche Schauspieler und Künstler stellten ihr Können mitten auf der Fußgängerzone unter Beweis. Freitagabend standen an jeder Ecke auf der Hauptgasse, in den Hinterhöfen und Seitengassen kleine Zelte mit musizierenden Kapellen. Trotz des kühlen Regenwetters wiegten sich die Besucher mit seligem Lächeln im Rhythmus der Gitarren. 


Das „Use the City Festival“, welches in diesem Jahr zum fünften Mal in Folge stattfindet, bringt Kunst, Musik und Theater auf die Straße. Laien wie Profis treten auf öffentlichen Plätzen auf und binden die Besucher in ihre Performance mit ein. So hat auch die unabhängige Kaschauer Theatergruppe „Na peróne“ („Auf der Plattform”) gemeinsam mit dem französischen Ensemble „Là Hors De“ aus Lyon am Freitagabend auf mehreren Quadratkilometern ein interaktives Performancestück aufgeführt. Mit Masken tanzten sie auf Stühlen, zerrissen Bücher in Stücke. Es ging politisch zu: Von Sándor Márai über Zensur zum Exil. In dem Stück ging es um Vertreibung, Flucht, Migration und Menschenrechte.


In der nächtlichen Finsternis der Stadt mit düsterer Plattenbaukulisse folgten wir, die rund Einhundert Zuschauer, nichtsahnend einer Truppe Künstlern, die springend, kletternd und tanzend, ein riesiges Areal leerstehender Fabrikhallen für sich einnahmen.

Als anfänglich unbeteiligte Zuschauerin fand ich mich plötzlich in einem Eisengitterkäfig wieder, eingepfercht auf engstem Raum mit etlichen weiteren Besuchern, die sich alle dieselbe Frage stellten: Was geschieht mit uns? Wir alle trippelten wie kleine Schäfchen in einen Korridor, dessen Gitterwände sich urplötzlich vor uns verschlossen und uns zu Gefangenen machten. Die Schauspieler befanden sich unter uns. Quer verteilt in den Käfigen riefen sie im verzweifelten Tonfall nach Namen und fragten uns nach Personen, die wir nicht kannten. Etwas hilflos überließen wir uns dem Geschehen.

Wie ungemütlich es plötzlich geworden war, sich nicht mehr visuell berieseln zu lassen, sondern mittendrin in einem Theaterstück zu stecken, dessen Ausgang wir nicht kannten. 


Am Rande der Käfige standen „Wächter“ mit vermummten Gesichtern, die sich rhythmisch auf die Beine schlugen. Sie trugen Camouflagehosen, blickten stumm über ihre gefangene Meute hinweg und blitzten mit Taschenlampen in unsere Augen. Mit einem Satz sprangen sie wie wilde Tiere alle gleichzeitig an die Käfigwände. Alles verstummte und erzitterte. Dann strichen sie mit den Taschenlampen übers Eisengitter, sodass ein ohrenbetäubendes Getöse erklang. 

Wie einfach es gewesen ist, uns in die Falle zu manövrieren, dachte ich mir immer wieder. Dabei stieg mir eine Erinnerung vom Anfang der Woche wieder in den Sinn, die mir die Kehle zuschnürte…

Fotostrecke 

Das Performancestück "Step by Step" der beiden Theaterensembles "Na peróne" aus Kaschau und "Là Hors De" aus Lyon




 

Fotos: Tomáš Bachura / Košice2013

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