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Freitag, 19. April 2013

„Why does Julia Mensch need 20 kilos of apples?“


Diese etwas merkwürdige Frage lockt mich durch das Tor von Vítez in einen versteckten Hinterhof der Kaschauer Hauptgasse auf die Ausstellungseröffnung der argentinischen Künstlerin Julia Mensch.

Ich steige eine knarrende Wendeltreppe aus Holz hinauf und gelange in den Wandelgang, der mich zu einer kleinen Tür führt. Es ist der Eingang zum Pyecka Studio, eine junge Galerie, die sich auf Street Art und internationale Nachwuchskünstler spezialisiert hat. 

Mein erster Blick fällt auf zwei Netzsäcke gefüllt mit roten Äpfeln. Es ist das erste Exponat der Ausstellung „Salashi“. Der Ort "Salashi" ist zugleich Namensgeber und Thema der Ausstellung, in der die Künstlerin ihre eigene Familiengeschichte aufarbeitet. Die Räume im Pyecka Studio sind nur wenige Quadratmeter klein, doch die hohen gewölbten Decken des neugotischen Altbaus lassen sie groß erscheinen.

Julia Mensch, eine zierliche Person mit dunklen Haaren, steht angesichts der hohen Besucherzahl etwas schüchtern in der Ecke des Ausstellungssaals. Julia beginnt den vielen Besuchern ihrer Reise nach Salashi zu erzählen, zumindest jenem Teil, der Englisch versteht.

Die Reise der Argentinierin auf den Spuren ihres jüdischen und kommunistischen Großvaters Rafael beginnt vor acht Jahren in Buenos Aires und führt sie quer durch Europa bis in das ukrainische Dorf Salashi, dem Geburtsort und die Heimat ihrer argentinischen Familie. 

Ein beruhigendes Knacken dreier alter Dia-Projektoren begleitet Julias Erzählung, die im regelmäßigen Rhythmus Bilder an die Wand werfen. Kick-knack. Das nächste Foto erscheint. Es zeigt eine Hütte inmitten von Wäldern, greise Frauen mit geblümten Kopftüchern und gefalteten Händen vor ihren Häusern. Ein fremder Ort in einer anderen Zeit – oder ist die Zeit dort einfach nur stehengeblieben?

Salashi, das ukrainische 800-Seelen-Dorf, umgeben von Bäumen und Wiesen, liegt wenige Kilometer vor polnischem Gebiet und grenzt somit unmittelbar an die europäische Schengen-Zone. Läuft man ein paar Kilometer durch das Walddickicht, stößt man unwillkürlich auf Zäune und Wachposten der ukrainischen Militärbasis. 

Die 33-Jährige ist dort auf der Suche nach dem Geburtshaus ihres Großvaters. Julias Urgroßvater verlässt 1927/28 aufgrund einer großen Hungersnot das damals noch polnische Gebiet, mit dem Versprechen seiner Familie ein besseres Leben in Südamerika zu ermöglichen. 1935 folgen ihm seine vier Söhne – allesamt minderjährig – per Dampfschiff, darunter Julias damals achtjähriger Großvater Rafael. Die Mutter der Brüder sitzt indes aufgrund illegalen Saccharin-Handels im Gefängnis fest. Nach ihrer Freilassung überquert auch sie den atlantischen Ozean. In Buenos Aires beginnt für Julias Großvater Rafael ein neues Leben – 45 Jahre später kommt seine Enkeltochter Julia zur Welt.

Sie ist die Erste der Familie Mensch, die in die ukrainische Heimat zurückkehrt. In Salashi findet sie nicht nur das Geburtshaus ihres Großvaters – eine einfache Holzhütte, die heute als Bibliothek im nahezu unveränderten Zustand dient – sie trifft auf ehemalige Bekannte ihres Großvaters Rafael, die sie willkommen heißen und auch gleich zu hausgemachter Wurst und Schnaps ins Haus einladen.

Der Projektor wirft ein neues Bild an die Wand. Apfelbäume. Eine Wiese voller Äpfel. Moos, dichtes, hohes Gras. Malerische Natur. Eine vertraute Idylle. Julia umringt von Dorfbewohnern.


Die Menschen in Salashi leben in einfachen Verhältnissen. Sie besitzen nicht viel. Doch das Wenige, was sie besitzen, teilen sie. Und so kommt es, dass die Fremde in der Heimat ihrer Ahnen, schwer bepackt, mit Säcken voller Äpfel, aber glücklich ihren Rückweg antritt. Diese Erfahrung und auch ein paar der Früchte lässt sie nun auch in Košice zurück.

Nachtrag

Die Fotos von Julia Mensch sind noch bis Ende April im Pyecka Studio zu sehen. Das Buch über ihre Reise liegt in spanischer Sprache, mit englischer, slowakischer und ukrainischer Übersetzung vor. 

Julia Mensch gehört zu einen der „Artists in Residence“, die im vergangenen Jahr im Rahmen des K-A-I-R Programms einen dreimonatigen Aufenthalt in Košice verbracht haben.

Ich bleibe noch eine Weile auf der Ausstellung und beobachte tief versunken das Drehrad der Dia-Projektoren, im Hintergrund vernehme ich Stimmengewirr unterschiedlicher Sprachen. Das leise Gemurmel verebbt von einem Moment auf den anderen. Einige Mädchen singen ein Volkslied in einer mir fremden, doch dem slowakisch ähnlicher Sprache. Alle lauschen der Melodie, die in der Akustik der hohen Decken des Gewölbebaus zu schweben scheint. Ein magischer Moment.


Von der 20-jährigen Natalia erfahre ich kurze Zeit später, dass sie und ihre Freundinnen zur ruthenischen Minderheit gehören. Mit rund 3000 Ruthenen im Bezirk Košice stellen sie nach Ungarn, Roma und Tschechen die viertgrößte Minderheit in der Ostslowakei dar.

Die 21-jährige L’udmila sagt mir, ihr sei zu Ohren gekommen, Deutsche würden auf Hochzeiten an einem einzigen Glas nippend den ganzen Abend verbringen und fragt mich, ob das denn wirklich wahr sei. Sie lädt mich ein Ende Juni zum zweitägigen Kultur- und Sportfestival in ihre Heimat Medzilaborce zu kommen (hier zum Artikel über meinen Besuch). Dort würde ich lernen, wie man richtig feiere und trinke. Na zdaróvie!

Fotos : Michaela Bottková
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Sonntag, 7. April 2013

Mit fremden Augen


Ich gebe zu, in die Vorfreude auf meine neue Tätigkeit als Stadtschreiberin mischte sich auch die Befürchtung, Dinge zu übersehen, die mir womöglich gewöhnlich erscheinen. Schließlich habe ich Košice von klein auf jedes Jahr besucht. Doch bereits nach den ersten Tagen muss ich feststellen: ich bin selbst eine Fremde in meiner Geburtsstadt. 

Während der schier nie enden wollenden Autofahrten in die Slowakei beobachtete ich als Kind die auf der Fensterscheibe entlangrinnenden Regentropfen. Denn nach 14 Stunden Autofahrt war jede Bewegung faszinierend. Dann plötzlich erschienen die ersten riesigen Reklametafeln. Gelbe, bis in den Himmel ragende Straßenlaternen, die die Fassaden der grauen Betonklötze in ein grelles Licht tauchten, hießen uns willkommen. 

Über all die Jahre blieb der erste Eindruck Košices unverändert: das rauchende Stahlwerk, sechsspurige, leere Straßen bei Nacht, das „Amphitheater“ – eine mit bunten Stühlen bestückte halbrunde Sitzanlage aus den 1950ern –  all das glitt schemenhaft an mir vorüber. Auch bewegte ich mich nicht selbständig in der Stadt, nein ich wurde bewegt, von der einer Oma zur anderen bugsiert und mit all den süßen Sünden wie „vanilkové rohlíčky“ oder „rumové mesiačiky“ verköstigt.

Gestern, heute, diese Woche ist es nun anders. Ich entdecke die Stadt für mich neu. Es ist, als würde jemand nach und nach die fehlenden Teile der Karte aufdecken, die mir bislang als Terra incognita verborgen blieben. Die Bilder fügen sich zusammen, Orte bekommen ihre Namen, ihre Koordinaten.

Einer dieser Neuentdeckungen ist das Ostslowakische Museum auf dem Platz des Friedensmarathons in Košice. In dem imposanten Bau der Neorenaissance befinden sich auf mehreren Etagen Exponate zur Geschichte der Ostslowakei sowie die Schatzkammer der Stadt. Ehrlichgesagt habe ich das Gebäude noch nie betreten, aus Angst vor übergroßen Jesuskreuzen und mit Holzwürmern zerfressenen Marienstatuen.

Nun locken mich, wie auch viele andere Kunstinteressierte, Fotografien französischer Künstlerinnen in das Museum. Die Ausstellung „Un petit Journal“  (Ein kleines Tagebuch), die noch bis zum 30. April zu sehen ist, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den beiden diesjährigen Kulturhauptstädten Košice und Marseille.


Die Fotografien der anwesenden Künstlerinnen Suzanne Hetzel, Anne Laubet und Flore Gaulmier werfen einen Blick hinter die Kulissen von Košice. Ihre Außensicht übt eine besondere Anziehungskraft auf die neugierigen Besucher aus. - Vielleicht ist es eine Art innerer Voyeurismus? „Was sehen diese fremden Künstlerinnen aus Marseille in meiner Heimat, die mir manchmal so trist und trivial erscheint?“, fragt sich der Besucher.

Der Marseillerin Flore Gaulmier fielen auf ihren nächtlichen Streifzügen durch Einkaufsstraßen die Vitrinen mit Dessous-Mode ins Auge. Nachts erwachen die Schaufenster zum Leben. Die leicht bekleideten Puppen inszenieren sich selbst auf ihren ausgeleuchteten Bühnen… 


In den Vororten von Košice entdeckte Gaulmier in grellen Pastelltönen gestrichene Einfamilienhäuser. Über Geschmack lässt sich streiten. Die Fotografin betont, ihr gefielen die einzigartigen Fassaden. Ein Besucher scherzt dagegen, die schrillen Farben seien einfach billiger. 



Die Fotografin Anne Laubet inspirierten wiederum die Plattenbausiedlungen, die den historischen Stadtkern wie ein Ring umsäumen. Anders als in Marseille, lebt in Košice der Großteil der Bevölkerung in Plattenbausiedlungen. „Während in Frankreich kaum mehr über deine Herkunft verrät, als dein Wohnviertel, kannst du in Košice darüber wirklich keine Schlüsse ziehen.“  

Die Koexistenz vom kommunistischen Erbe und kapitalistischen Hauruckaktionen werden insbesondere in den Wohnsiedlungen deutlich, so Anne Laubet. Gläserne Shopping-Malls wie Optima und Aupark sprossen in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden, während die Plattenbausiedlungen weitestgehend in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben sind.
 


Auch Adéla Foldynová, meine Begleiterin auf der Vernissage, schätzt „den fremden Blick“ auf die Kulturhauptstadt. Als Leiterin von K.A.I.R. – Košice Artist in Residence, einem interkulturellen Austauschprogramm für Nachwuchskünstler, bemerkt sie, welchen Mehrwert die Außensicht von ausländischen Künstler  auf Košice habe. Die Auseinandersetzung der Künstler mit der Stadt und ihrer Bevölkerung verändere manchmal den Blickwinkel der Košicianer auf vermeintlich Bekanntes.  

Zum Ende der Vernissage erweitern die Marseiller Künstlerinnen dann noch ihre provenzalischen Weinkenntnisse um slowakischen Rotwein – auch eine Möglichkeit des interkulturellen Austausches…
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