Montag, 22. April 2013

Der Duft der Donaumonarchie



Ich muss zugeben, eines hat sich seit meiner Kindheit in der slowakischen Heimat nicht verändert (siehe zweiter Eintrag): meine Großmutter verwöhnt mich immer noch mit den wunderbarsten süßen Leckereien, die die Länder der ehemaligen Donaumonarchie zu bieten haben. 

Gestern erst steckte sie mir mit einem Augenzwinkern eine Schachtel wohlduftender, mit Mohn gefüllter Hörnchen zu. Stolz fügte sie hinzu, das Rezept für die sogenannten „Pressburger Mohnhörnchen“ stamme von Irena Košiková höchstpersönlich. Die hierzulande nur als Frau Čirina bekannte Hausdame, kochte jahrelang für keinen geringeren als den damaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel. Und dieser konnte nicht genug davon  kriegen...

Teilen

Freitag, 19. April 2013

„Why does Julia Mensch need 20 kilos of apples?“


Diese etwas merkwürdige Frage lockt mich durch das Tor von Vítez in einen versteckten Hinterhof der Kaschauer Hauptgasse auf die Ausstellungseröffnung der argentinischen Künstlerin Julia Mensch.

Ich steige eine knarrende Wendeltreppe aus Holz hinauf und gelange in den Wandelgang, der mich zu einer kleinen Tür führt. Es ist der Eingang zum Pyecka Studio, eine junge Galerie, die sich auf Street Art und internationale Nachwuchskünstler spezialisiert hat. 

Mein erster Blick fällt auf zwei Netzsäcke gefüllt mit roten Äpfeln. Es ist das erste Exponat der Ausstellung „Salashi“. Der Ort "Salashi" ist zugleich Namensgeber und Thema der Ausstellung, in der die Künstlerin ihre eigene Familiengeschichte aufarbeitet. Die Räume im Pyecka Studio sind nur wenige Quadratmeter klein, doch die hohen gewölbten Decken des neugotischen Altbaus lassen sie groß erscheinen.

Julia Mensch, eine zierliche Person mit dunklen Haaren, steht angesichts der hohen Besucherzahl etwas schüchtern in der Ecke des Ausstellungssaals. Julia beginnt den vielen Besuchern ihrer Reise nach Salashi zu erzählen, zumindest jenem Teil, der Englisch versteht.

Die Reise der Argentinierin auf den Spuren ihres jüdischen und kommunistischen Großvaters Rafael beginnt vor acht Jahren in Buenos Aires und führt sie quer durch Europa bis in das ukrainische Dorf Salashi, dem Geburtsort und die Heimat ihrer argentinischen Familie. 

Ein beruhigendes Knacken dreier alter Dia-Projektoren begleitet Julias Erzählung, die im regelmäßigen Rhythmus Bilder an die Wand werfen. Kick-knack. Das nächste Foto erscheint. Es zeigt eine Hütte inmitten von Wäldern, greise Frauen mit geblümten Kopftüchern und gefalteten Händen vor ihren Häusern. Ein fremder Ort in einer anderen Zeit – oder ist die Zeit dort einfach nur stehengeblieben?

Salashi, das ukrainische 800-Seelen-Dorf, umgeben von Bäumen und Wiesen, liegt wenige Kilometer vor polnischem Gebiet und grenzt somit unmittelbar an die europäische Schengen-Zone. Läuft man ein paar Kilometer durch das Walddickicht, stößt man unwillkürlich auf Zäune und Wachposten der ukrainischen Militärbasis. 

Die 33-Jährige ist dort auf der Suche nach dem Geburtshaus ihres Großvaters. Julias Urgroßvater verlässt 1927/28 aufgrund einer großen Hungersnot das damals noch polnische Gebiet, mit dem Versprechen seiner Familie ein besseres Leben in Südamerika zu ermöglichen. 1935 folgen ihm seine vier Söhne – allesamt minderjährig – per Dampfschiff, darunter Julias damals achtjähriger Großvater Rafael. Die Mutter der Brüder sitzt indes aufgrund illegalen Saccharin-Handels im Gefängnis fest. Nach ihrer Freilassung überquert auch sie den atlantischen Ozean. In Buenos Aires beginnt für Julias Großvater Rafael ein neues Leben – 45 Jahre später kommt seine Enkeltochter Julia zur Welt.

Sie ist die Erste der Familie Mensch, die in die ukrainische Heimat zurückkehrt. In Salashi findet sie nicht nur das Geburtshaus ihres Großvaters – eine einfache Holzhütte, die heute als Bibliothek im nahezu unveränderten Zustand dient – sie trifft auf ehemalige Bekannte ihres Großvaters Rafael, die sie willkommen heißen und auch gleich zu hausgemachter Wurst und Schnaps ins Haus einladen.

Der Projektor wirft ein neues Bild an die Wand. Apfelbäume. Eine Wiese voller Äpfel. Moos, dichtes, hohes Gras. Malerische Natur. Eine vertraute Idylle. Julia umringt von Dorfbewohnern.


Die Menschen in Salashi leben in einfachen Verhältnissen. Sie besitzen nicht viel. Doch das Wenige, was sie besitzen, teilen sie. Und so kommt es, dass die Fremde in der Heimat ihrer Ahnen, schwer bepackt, mit Säcken voller Äpfel, aber glücklich ihren Rückweg antritt. Diese Erfahrung und auch ein paar der Früchte lässt sie nun auch in Košice zurück.

Nachtrag

Die Fotos von Julia Mensch sind noch bis Ende April im Pyecka Studio zu sehen. Das Buch über ihre Reise liegt in spanischer Sprache, mit englischer, slowakischer und ukrainischer Übersetzung vor. 

Julia Mensch gehört zu einen der „Artists in Residence“, die im vergangenen Jahr im Rahmen des K-A-I-R Programms einen dreimonatigen Aufenthalt in Košice verbracht haben.

Ich bleibe noch eine Weile auf der Ausstellung und beobachte tief versunken das Drehrad der Dia-Projektoren, im Hintergrund vernehme ich Stimmengewirr unterschiedlicher Sprachen. Das leise Gemurmel verebbt von einem Moment auf den anderen. Einige Mädchen singen ein Volkslied in einer mir fremden, doch dem slowakisch ähnlicher Sprache. Alle lauschen der Melodie, die in der Akustik der hohen Decken des Gewölbebaus zu schweben scheint. Ein magischer Moment.


Von der 20-jährigen Natalia erfahre ich kurze Zeit später, dass sie und ihre Freundinnen zur ruthenischen Minderheit gehören. Mit rund 3000 Ruthenen im Bezirk Košice stellen sie nach Ungarn, Roma und Tschechen die viertgrößte Minderheit in der Ostslowakei dar.

Die 21-jährige L’udmila sagt mir, ihr sei zu Ohren gekommen, Deutsche würden auf Hochzeiten an einem einzigen Glas nippend den ganzen Abend verbringen und fragt mich, ob das denn wirklich wahr sei. Sie lädt mich ein Ende Juni zum zweitägigen Kultur- und Sportfestival in ihre Heimat Medzilaborce zu kommen (hier zum Artikel über meinen Besuch). Dort würde ich lernen, wie man richtig feiere und trinke. Na zdaróvie!

Fotos : Michaela Bottková
Teilen

Montag, 15. April 2013

Der Klang der Stadt


Ich stehe auf Zehenspitzen und lehne mich heraus aus dem Fenster meiner Dachwohnung. Wenn die Nacht über Košice hereinbricht, setzt ein bedächtiges Rauschen über den Dächern ein. Der Umriss der gotischen Elisabethkirche zeichnet sich gespenstisch ab vor dem Halbdunkel der beleuchteten Straßen der Altstadt.
In der Ferne vernehme ich das Rattern vorbeifahrender Züge, ab und zu ein leises Brummen und Knattern der Straßenbahnen. Sonst ist nichts zu hören. Keine menschliche Stimme, kein Gelächter, kein Klappern von Stöckelschuhen auf Pflasterstein dringt zu mir vor. In der abendlichen Stille tritt dieses summende, monotone Rumoren ein, als brodele es ganz leise in der Tiefe eines Suppentopfes.
Aussicht auf die Dominikanerkirche
Diese besondere Akustik verdankt Košice seiner Lage im Talkessel der Westkarpaten am Ufer des Flusses Hernad.
Um den historischen Kern der Stadt türmen sich Plattenbausiedlungen auf den hügeligen Rändern des Tales, die Košice wie eine Stadtmauer beschützen. Die weiß-grauen Betonbauten sind im Zuge des sprunghaften Bevölkerungswachstums seit den 1960er Jahren entstanden und wirken wie wüst aufgestellte Dominosteinhaufen.
Morgens kocht der Topf über. Da ist zunächst ein durchdringend sägender Ton, der durch die Wand zu meinem Nachbarn dringt und mich weckt. Dann erklingen die Tonleitern aus der Musikhochschule von der gegenüberliegenden Straßenseite. Geigen, Klarinetten spielen ihre Morgenübung.
Sobald die Stadt erwacht, verwandelt sich der leise brodelnde Kessel in einen dröhnenden Moloch, aus dem jedes Hupen, jede Sirene vielfach verstärkt wiederhallt. – Ein Hauch von Los Angeles in Košice…




Teilen

Freitag, 12. April 2013

„Bos es dos?“ – Besuch bei den Mantaken in Metzenseifen


Ich verlasse Košice und fahre Richtung Südwesten in den kleinen Ort Medzev, zu Deutsch Metzenseifen. Dort soll die kleine deutschsprachige Gemeinde der Mantaken etwas versteckt im Slowakischen Karst leben. Von Mantaken habe ich noch nie zuvor gehört, obwohl sie nur 30 Kilometer westlich von Košice entfernt leben und das seit 800 Jahren… 
Bereits vor der Fahrt warnt man mich vor dem schlechten Zustand der slowakischen Straßen. Nach dem ungewöhnlich harten Winter seien zahlreiche der flüchtig mit Asphalt gefüllten Teerflicken wieder aufgeplatzt. Auf der Landstraße in Richtung Jasov wimmelt es dann nur so vor Schlaglöchern. Ich weiche ihnen aus, wie auf einer Slalomstrecke. Dabei muss ich unwillkürlich an meinen Cousin denken, der mich erst kürzlich fragte, woran man einen betrunkenen slowakischen Autofahrer erkenne: Nüchterne Autofahrer fahren Slalom, betrunkene geradeaus. – Soweit meine Einführung in den trockenen slowakischen Humor.
Die kurvige Landstraße führt mich abwechselnd durch langgezogene Dörfer und ödes Weideland. Es folgen finstere Waldgebiete und mich beschleicht das Gefühl mich verfahren zu haben. Dann endlich ein Ortschild: Jasov. Von hier ist es laut Karte nur noch ein Katzensprung nach Medzev. 


Plötzlich verwandelt sich die Fahrbahn zum Fußweg. Drei Mädchen laufen Hand in Hand unbeschwert auf der Gegenspur, eine Gruppe Jugendlicher zieht einen Schubkarren mit Brennholz vor sich her. Direkt an der Hauptstraße von Jasov lebt die Roma-Bevölkerung in dicht besiedelten Häusern. 


Es raucht aus den Hütten, die teilweise nur mit Wellblech verkleidet sind. Überall türmt sich der Müll auf. Unweit der Roma-Siedlung prangen auf einer Anhöhe stolz die beiden Türme des Prämonstratenser-Klosters von Jasov. Dahinter erstrecken sich die Gebirgszüge des Slowakischen Erzgebirges. Weiß blitzt das Gestein unter dem dichten Wald des Slowakischen Karsts hervor. Wie unmittelbar hier doch Idylle und die harte Realität der Roma beieinander liegen. 


Vorbei an der „Schule“ der Roma – einem ausgebrannten Betonklotz – fahre ich weiter Richtung Metzenseifen. Das deutsch-slowakischsprachige Ortsschild Medzev-Metzenseifen heißt mich willkommen. Es deutet auf eine lange Geschichte deutscher Siedler hin, die bis ins frühe Mittelalter zurückgeht. Nachdem reiche Erzvorkommen im Bodwatal entdeckt wurden, sandte der ungarische König Bela IV. Mitte des 13. Jahrhunderts seine Boten in den Westen, um deutsche Bergleute und Handwerker anzuwerben. 

Metzenseifen entwickelte sich alsbald zu einem wichtigen Wirtschaftszentrum und genoss selbst am kaiserlichen Hof durch seine Schmiedekunst ein hohes Ansehen. 1842 waren 109 Hammerschmieden mit 198 Essen in Betrieb – zu jener Zeit die weltweit höchste Konzentration. Heute ist von dem alten Glanz kaum noch etwas zu spüren. Eine Hammerschmiede soll angeblich noch in Betrieb sein. Doch als ich vorbeifahre, wirkt sie wie ausgestorben. Inzwischen sind die meisten Bewohner in der Holzwirtschaft beschäftigt. Doch die Arbeitslosigkeit greift hier um sich, unschwer an den betrunkenen Männern zu erkennen, die auf den Gehwegen entlangtorkeln. 
Schon beim Aussteigen aus dem Auto, werde ich prompt von einem alkoholisierten Bewohner auf Slowakisch nach einer Zigarette gefragt. Ich versuche mich auf Deutsch heraus zu reden: „Ich verstehe nichts“. Doch überraschend hilft mir das nicht weiter: Der Mann wechselt sogleich ins Deutsche. Das passiert mir zum ersten Mal in diesem Land.
Metzenseifen gilt heute als DIE Hauptstadt der Deutschen der Slowakei. 400 der knapp 4300 Bewohner zählen sich laut der letzten Volkszählung von 2011 zur deutschen Minderheit. 1999 waren es fast doppelt so viele. 
Ich treffe Helmut Bistika, einen freischaffenden Künstler und Kunstpädagogen aus Medzev, in seinem Café am Kirchplatz. Das Galérie-Café ist eine Oase. Der wohlduftende Hauch von Café, Zimt und Schokolade steht im starken Kontrast zum Geruch von Brennholz, der die Straßen der Stadt durchströmt. Während im Ort einige Schaufenstervitrinen den Eindruck erwecken, als stünden sie seit Jahren leer, erstrahlen die im Galérie-Café ausgestellten Gemälde in leuchtenden Farben. 


Vor zwei Jahren hat Helmut Bistika gemeinsam mit seiner Frau die Räumlichkeiten restauriert. Die beiden haben sich ihren Traum erfüllt. Aber an das liebevoll eingerichtete Café mit gefliester, lachsfarben schimmernder Theke gewöhnen sich die Bewohner offensichtlich nur langsam. Selten betritt lokale Kundschaft sein Café.
Helmut Bistika gehört wohl zu den wenigen, die nach 1960 geboren sind und dennoch fließend Mantakisch sprechen. Dass in der Familie Bistika noch Dialekt gesprochen wird, ist inzwischen alles andere als selbstverständlich. Nur noch selten wird Mantakisch an die Nachkommen weitergegeben. - Eine vom Aussterben bedrohte Sprache.
Mantakisch klingt in meinen Ohren wie antiquiertes Bayerisch. Dabei täuscht der Eindruck, denn auch Siedler aus anderen deutschen Regionen, wie Thüringen und der Rhein/Main-Gegend beeinflussten die Sprache im Ort über die Jahrhunderte. 
Wie kommt es, dass sich der mantakische Dialekt über Jahrhunderte hinweg gerade in Metzenseifen erhalten konnte? Es muss an der Abgeschiedenheit des Bodwatals liegen. Im Gegensatz zu anderen karpatendeutschen Siedlungsgebieten in der Slowakei gab es hier weniger Zuwanderung anderssprachiger Volksgruppen.

An einer Wand des Cafés entdecke ich ein Gedicht auf mantakisch. Ich versuche die Bedeutung der Sätze zu entziffern. Es handelt sich um einen Auszug aus der Ballade 'Die Metzenseifner Kirch' des Heimatdichters Peter Gallus. „Hond“ statt „Hund“ und „Grond“ statt „Grund“. „Was ist das“ wird zu “ „Bos es dos“ – Ich muss unweigerlich schmunzeln, weil mir das Kinderlied „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ in den Sinn kommt.
Helmut wendet sich unterdessen einer Traube Frauen mittleren Alters zu. Der Künstler beginnt wild gestikulierend in geheimnisvollen Mantakisch mit den Damen zu sprechen und verschwindet kurzerhand. Die Freude über diese seltenen Gäste ist ihm anzusehen. Während er für seine Kunden Sachertorte zubereitet, frage ich die Damen, wo ich mehr über mantakische Kultur und Geschichte erfahren könne. Sie raten mir, mich an die Mitglieder des Karpatendeutschen Vereins zu wenden, die sich einmal die Woche zum Singen treffen.
– Also dann, die nächste Reise nach Medzev ist bereits geplant. Doch dann nehme ich lieber den Bus, um die Servolenkung des Autos meiner Großmutter nicht überzustrapazieren…








Fotostrecke Metzenseifen







Teilen

Donnerstag, 11. April 2013

Endlich Frühling!


Das erste Eis
Dom der Heiligen Elisabeth
Die Hauptstraße in der Altstadt




Teilen

Sonntag, 7. April 2013

Mit fremden Augen


Ich gebe zu, in die Vorfreude auf meine neue Tätigkeit als Stadtschreiberin mischte sich auch die Befürchtung, Dinge zu übersehen, die mir womöglich gewöhnlich erscheinen. Schließlich habe ich Košice von klein auf jedes Jahr besucht. Doch bereits nach den ersten Tagen muss ich feststellen: ich bin selbst eine Fremde in meiner Geburtsstadt. 

Während der schier nie enden wollenden Autofahrten in die Slowakei beobachtete ich als Kind die auf der Fensterscheibe entlangrinnenden Regentropfen. Denn nach 14 Stunden Autofahrt war jede Bewegung faszinierend. Dann plötzlich erschienen die ersten riesigen Reklametafeln. Gelbe, bis in den Himmel ragende Straßenlaternen, die die Fassaden der grauen Betonklötze in ein grelles Licht tauchten, hießen uns willkommen. 

Über all die Jahre blieb der erste Eindruck Košices unverändert: das rauchende Stahlwerk, sechsspurige, leere Straßen bei Nacht, das „Amphitheater“ – eine mit bunten Stühlen bestückte halbrunde Sitzanlage aus den 1950ern –  all das glitt schemenhaft an mir vorüber. Auch bewegte ich mich nicht selbständig in der Stadt, nein ich wurde bewegt, von der einer Oma zur anderen bugsiert und mit all den süßen Sünden wie „vanilkové rohlíčky“ oder „rumové mesiačiky“ verköstigt.

Gestern, heute, diese Woche ist es nun anders. Ich entdecke die Stadt für mich neu. Es ist, als würde jemand nach und nach die fehlenden Teile der Karte aufdecken, die mir bislang als Terra incognita verborgen blieben. Die Bilder fügen sich zusammen, Orte bekommen ihre Namen, ihre Koordinaten.

Einer dieser Neuentdeckungen ist das Ostslowakische Museum auf dem Platz des Friedensmarathons in Košice. In dem imposanten Bau der Neorenaissance befinden sich auf mehreren Etagen Exponate zur Geschichte der Ostslowakei sowie die Schatzkammer der Stadt. Ehrlichgesagt habe ich das Gebäude noch nie betreten, aus Angst vor übergroßen Jesuskreuzen und mit Holzwürmern zerfressenen Marienstatuen.

Nun locken mich, wie auch viele andere Kunstinteressierte, Fotografien französischer Künstlerinnen in das Museum. Die Ausstellung „Un petit Journal“  (Ein kleines Tagebuch), die noch bis zum 30. April zu sehen ist, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen den beiden diesjährigen Kulturhauptstädten Košice und Marseille.


Die Fotografien der anwesenden Künstlerinnen Suzanne Hetzel, Anne Laubet und Flore Gaulmier werfen einen Blick hinter die Kulissen von Košice. Ihre Außensicht übt eine besondere Anziehungskraft auf die neugierigen Besucher aus. - Vielleicht ist es eine Art innerer Voyeurismus? „Was sehen diese fremden Künstlerinnen aus Marseille in meiner Heimat, die mir manchmal so trist und trivial erscheint?“, fragt sich der Besucher.

Der Marseillerin Flore Gaulmier fielen auf ihren nächtlichen Streifzügen durch Einkaufsstraßen die Vitrinen mit Dessous-Mode ins Auge. Nachts erwachen die Schaufenster zum Leben. Die leicht bekleideten Puppen inszenieren sich selbst auf ihren ausgeleuchteten Bühnen… 


In den Vororten von Košice entdeckte Gaulmier in grellen Pastelltönen gestrichene Einfamilienhäuser. Über Geschmack lässt sich streiten. Die Fotografin betont, ihr gefielen die einzigartigen Fassaden. Ein Besucher scherzt dagegen, die schrillen Farben seien einfach billiger. 



Die Fotografin Anne Laubet inspirierten wiederum die Plattenbausiedlungen, die den historischen Stadtkern wie ein Ring umsäumen. Anders als in Marseille, lebt in Košice der Großteil der Bevölkerung in Plattenbausiedlungen. „Während in Frankreich kaum mehr über deine Herkunft verrät, als dein Wohnviertel, kannst du in Košice darüber wirklich keine Schlüsse ziehen.“  

Die Koexistenz vom kommunistischen Erbe und kapitalistischen Hauruckaktionen werden insbesondere in den Wohnsiedlungen deutlich, so Anne Laubet. Gläserne Shopping-Malls wie Optima und Aupark sprossen in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden, während die Plattenbausiedlungen weitestgehend in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben sind.
 


Auch Adéla Foldynová, meine Begleiterin auf der Vernissage, schätzt „den fremden Blick“ auf die Kulturhauptstadt. Als Leiterin von K.A.I.R. – Košice Artist in Residence, einem interkulturellen Austauschprogramm für Nachwuchskünstler, bemerkt sie, welchen Mehrwert die Außensicht von ausländischen Künstler  auf Košice habe. Die Auseinandersetzung der Künstler mit der Stadt und ihrer Bevölkerung verändere manchmal den Blickwinkel der Košicianer auf vermeintlich Bekanntes.  

Zum Ende der Vernissage erweitern die Marseiller Künstlerinnen dann noch ihre provenzalischen Weinkenntnisse um slowakischen Rotwein – auch eine Möglichkeit des interkulturellen Austausches…
Teilen

Dienstag, 2. April 2013

Nachtzug nach Košice


In Pascal Merciers Roman nimmt Raimund Gregorius den Nachtzug nach Lissabon. – Mein Nachtzug geht nach Košice. Wie der Protagonist des gerade verfilmten Romans stehe auch ich vor der Frage „Wenn […] wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“

Ich will es wagen – mein kleines slowakisches Abenteuer. Packe meine Koffer, steige in Hamburg in den Zug und fahre Richtung Osten. In Košice, der 240.000 Seelen Stadt, der zweitgrößten der Slowakischen Republik, liegen meine Wurzeln. Hier bin ich 1986 geboren. Es ist die Heimat meiner Familie. Auch meine ist es auf eine Weise. Sie wäre es geworden, hätten meine Eltern sich damals nicht entschieden dem Sozialismus den Rücken zu kehren. Sie setzten meine Schwester und mich auf die Rückbank unseres Škodas und auf ging es in den Westen.  – Wir können nur einen kleinen Teil von dem leben, was in uns ist. Nun habe ich fünf Monate lang Zeit zu entdecken, wie sich dieser Teil anfühlt. 

Ich will als Stadtschreiberin ganz nah sein an Košice, seinen Menschen und der Umgebung. An dieser kleinen Stadt in der Ostslowakei, die sich noch etwas schüchtern gewöhnen muss an ihren Titel der „europäischen Kulturhauptstadt 2013“. Seit jeher ist Košice Schmelztiegel verschiedener Kulturen und Bräuche und steht sinnbildlich für Völkerwanderungen, Kriege und Wirrungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Košice wechselte binnen weniger Jahrzehnte mehrfach die Staatsangehörigkeit – ohne sich dabei auch nur einen Schritt vom Fleck zu bewegen. Wer kann dies schon von sich behaupten?

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten hier Juden, Deutsche, Ungarn und Slawen friedlich miteinander. Bis heute sind viele Bewohner der Stadt Košice bilingual. Daneben konnten sich einige wenige deutschsprachige Inseln in der Region halten – der forcierten Assimilierung durch das ungarische Königreich und den russischen Besatzern nach dem Zweiten Weltkrieg zum Trotz. In ostslowakischen Orten wie Metzenseifen oder Stoß spricht man heute noch den „mantakischen Dialekt“.

Wie wirkt sich die wechselvolle Geschichte der Stadt Košice und der Umgebung auf ihre Bewohner aus? Welche Erfahrungen machten sie in den politischen Umbrüchen? Mit welchen Herausforderungen lebt hier die junge Generation, die bereits im post-kommunistischen Staat aufgewachsen ist?

Über all das will ich schreiben. Nach 20 Stunden Fahrt, nach über 1200 Kilometern komme ich in meiner neuen-alten Heimat an. Mein slowakisches Abenteuer kann beginnen.

Nachtzug nach Košice - in Bildern

Nachts in Prag geht die Reise los

mit dem Schlafwagen
Viele Hunderte Kilometer rattert der Zug durch die Nacht
Nebelverhangen beginnt der nächste Morgen
Plötzliche Ankunft am Bahnhof Košice
Ich bin am Ziel. Endstation Košice.
Willkommen in der Kulturhauptstadt Europas
Teilen