Freitag, 3. Mai 2013

Der Fremde auf meiner Etage


Wir sitzen auf der ersten Etage im „Výmenník Važecká“, einem ehemaligen Wärmespeicher im Stadtteil Nad jazerom. Aus dem Erdgeschoss drängen Kinderrufe, Tische und Stühle werden verschoben. Die letzten Vorbereitungen für die Eröffnungsveranstaltung im Kulturzentrum laufen. In wenigen Minuten sollen die Anwohner ihre Vorschläge zum bald entstehenden Kulturprogramm einbringen.

Derweil erkunden einige neugierige Besucher die Dachterrasse des futuristisch anmutenden Betonbaus. Es ist die Eröffnungswoche gleich drei neuer Kulturzentren, und somit eine ganz besondere für Blanka Berkyová, die das Projekt „SPOTs“ bereits im vierten Jahr leitet.

Schon vor meiner Ankunft in Kaschau wurde ich mehrfach auf "SPOTs" hingewiesen, das in der Kulturhauptstadt als DAS Vorzeigeprojekt gilt. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter „SPOTs“? - Es soll Kultur in die Platte bringen, oder anders formuliert: die Siedlungen durch kulturelle und soziale Knotenpunkte - spots - wiederbeleben. Denn die riesigen Betonbausiedlungen erstrecken sich rings um das Stadtzentrum und liegen oft in weiter Ferne des lebendigen Altstadtgeschehens.
 
Endhaltestelle im Stadtviertel Nad jazerom
Seit 2009 baut die Stadt unter Leitung Blanka Berkyovás die ungenutzten Wärmespeicher in den Siedlungen in multifunktionale Kultur- und Medienzentren um. Früher dienten die Häuschen als Wärmeverteiler in den Wohnblocks. Mit dem Wechsel zu neuen Warmwasser- und Heizungstechnologien verloren sie ihre Funktion und verwahrlosten zusehends.

alter Wärmespeicher im Stadtteil Nad jazerom
Die Rekonstruktion der Wärmespeicher, die ihnen neue Form und Farbe verpasst, macht allerdings nur den kleinen sichtbaren Teil des eigentlichen Projektes aus. Weniger erkennbar sind die Veränderungen, die sich innerhalb der Bevölkerung abspielen. „Als wir die erste Ausstellung eines Bewohners, der sich mit Holzschnitzerei beschäftigt, auf die Beine gestellt haben, ist mir bewusst geworden, dass seine Nachbarn überhaupt nicht wussten, wer František Jelonek ist“, erinnert sich die SPOTs-Managerin.

Ausstellung von František Jelonek im Juni 2011 im Wärmespeicher Obrody
František Jelonek. Ein Name, eine anonyme Menschenseele von Hunderten, die in seinem Block leben. Seit über 20 Jahren steht Jeloneks Name auf dem Namensschild an der Tür, doch kaum jemand kannte den Mann mit Brille und grau-melierten Haaren. - Bis zu jenem Tag, als er im ehemaligen Wärmespeicher, wenige Schritte von seiner Wohnung entfernt, sein geheimes Hobby zum ersten Mal der Öffentlichkeit zur Schau stellte. Seine Nachbarn entdeckten nicht nur die Kunstwerke Jeloneks, sondern auch einen völlig neuen Menschen. „Das war ein Schlüsselmoment für mich“, bemerkt Blanka Berkyová lächelnd. „Da habe ich gedacht: wow, es funktioniert!“

Die Geschichte von František Jelonek ist kein Einzelfall. Nachbarn teilen sich seit einer Ewigkeit denselben Aufzug ohne je ein Wort miteinander gesprochen zu haben. Allein in Jeloneks Wohngebiet, dem Stadtteil West, wurden in den 1960er Jahren 15.000 Wohneinheiten gebaut, die im Schnitt als 4-Personen-Haushalte konzipiert waren. Heute leben hier 41.300 Menschen, meist in völliger Anonymität nebeneinander.

Blick von der Dachterasse des Wärmespeichers Wuppertálska auf die Siedlung KVP
Das Team von Spots will genau diese minimieren und den Bewohnern ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln. 2009 fragte es dazu die Bürger was sie mit den alten Wärmespeichern anstellen würden. So klopfte es auch an der Tür von Klára Fazekasová. Die pensionierte Lehrerin wohnt ihr halbes Leben in der Neustadt von Košice, welche aufgrund der Hanglage auch „Terasa“ genannt wird. „Am dringlichsten benötigten wir einen Raum für unsere Mieterversammlung“, gesteht sie. Bis die Plattenbauten neue Fenster, eine Isolierung und einen neuen Anstrich bekommen, müssen sich die Mieter gemeinsam über die Rekonstruktion einigen. Erst dann verschwindet das hellgraue Betonraster unter neuer Pastellfarbe. „Bislang blieb uns für die Versammlungen nur der Hausflur im Erdgeschoss. Jetzt können wir uns im ehemaligen Wärmespeicher um die Ecke treffen.“ 


Am Anfang vor vier Jahren glaubte kaum ein Bewohner, dass das SPOTs-Projekt funktionieren würde. Die größte Skepsis der Bürger lautete: der Umbau der alten Wärmespeicher und die Instandhaltung eines Kulturzentrums seien viel zu teuer. Man gab dem Projekt maximal ein Jahr Überlebenszeit. „Natürlich gibt es auch heute noch alte Griesgrämer, die sich über die hohen Kosten oder über den Krach bei Fußballwettbewerben beschweren“, sagt Klára Fazekasová und verdreht dabei die Augen. Die Rentnerin gibt mir eindeutig zu verstehen, dass sie keinesfalls zu diesen „alten Nörglern“ zähle.

der erste Wärmespeicher "Obrody", aus dem ein Kulturzentrum entstand
„Wissen Sie, wenn man hier so lange lebt, wird man faul abends in die Stadt zu fahren. Darum bin ich froh, dass wir es jetzt so nah zu kulturellen Veranstaltungen haben“, erzählt die Seniorin weiter. Zwar ist die öffentliche Verkehrsanbindung mit Bus und Tram meist gut zur Innenstadt geregelt. Doch die florierende „Hochkultur“ der Altstadt, die sich im Staatstheater oder im Haus der Künste abspielt, erscheint für viele Bewohner der „Terasa“ schier unerreichbar. – Zu weit klaffen das bunte, quirlige Altstadtleben und das Grau in Grau der Satellitenstädte auseinander.

Die Siedlungsbewohner stellten in den Wärmespeichern hingegen Gitarrenworkshops, Sportturniere, Lesungen, Film- und Theatervorstellungen auf die Beine. Im aktuellen Programm werden auch Trendsportarten wie Tae Bo und Yoga angeboten - selbst im Stadtkern eine Seltenheit - und ein Wärmespeicher verwandelte sich in einen Skatepark.

der Wärmespeicher L'udová dient seit April als  Skatepark im Stadtteil West
Hinter verschlossenen Türen in den Wohnblöcken verbergen sich geheime Kunstschmiede, Dichter, Batikkünstler oder Pflanzenkundler. Das Team von SPOTs sei immer wieder über die vielseitigen handwerklichen Fähigkeiten der Bewohner erstaunt. „Die Bewohner lernen wiederum interessante Künstler kennen, die wir zum Teil aus dem Ausland in die Siedlungen holen“, sagt sie. „So lernen wir gegenseitig voneinander. - Ein dynamischer Prozess.“

Vor dem Projekt „SPOTs“ gab es in den Siedlungen von Košice bereits vereinzelte, selbst initiierte Mütterzentren, Tauschbörsen und Jugendgruppen. „Aber eine derart großflächige Aktion, welche so viele Bürger gezielt integriert, ist mir weder aus der Slowakei, noch aus anderen Ländern bekannt“, sagt die junge Slowakin mit Stolz in der Brust. „SPOTs kann sich als ein Pionierprojekt bezeichnen!"

Bis 2018 bleiben die Häuser in den Händen der Veranstalter der Kulturhauptstadt, die sich um die Organisation der kulturellen Veranstaltungen und Instandhaltung kümmert. Die Projektleiterin hofft, dass sich die Kulturzentren eines Tages autonomisieren. „Vielleicht findet sich tatsächlich eine pfiffige Bürgerinitiative, die die kulturellen Aktivitäten in den Häusern fortsetzen und verbreiten wird.“

Info-Veranstaltung im neuen Wärmespeicher Važecká
Momentan sieht es zumindest im Stadtteil Nad jazerom noch nicht danach aus. Seine Anwohner müssen erst noch mit dem meteoritförmigen Gebäude warmwerden. Abgesehen von einer Gruppe Kinder, die wie magisch von der Kletterwand angezogen ist, kommt noch nicht einmal eine Handvoll Bürger zur Abendveranstaltung. Vielleicht ist das fehlende Interesse an diesem Abend aber auch der „SuperStar“ Gesangshow geschuldet, die in der „Malibu bar“ nebenan ihren eigenen Star auf die Bühne bringt …

ein Ufo ist gelandet - die Phase gegenseitiger Annäherung beginnt


Auszug aus dem Interview mit Blanka Berkyová (slowakisch)

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Donnerstag, 2. Mai 2013

Hamburg Nostalgie

Stolze Besitzerin eines Oldtimer-Pegasus

Es gibt einfach nichts Schöneres als bei Sonnenschein und angenehmen 25 Grad auf einem Drahtesel zu sitzen und sich den Wind um die Ohren pfeifen zu lassen. Dreißig Tage ohne Fahrrad waren schon ganz schön traurig...

Großen Dank an den ehemaligen Besitzer, für dieses großzügige Geschenk! - Eine Hamburgerin hätte man einfach nicht glücklicher machen können!
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Dienstag, 30. April 2013

Džanes romanes? - „Sprichst Du Romani?“



„Ko kerďas peskere kherutne buťa?", fragt Anna Koptová mit herausforderndem Blick. Wer hat seine Hausaufgaben gemacht, lautet die Frage auf Romani. Die Lehrerin beugt sich zu den Schülern vor, beide Arme auf die Tischkante gestützt. Mit hochgezogenen Augenbrauen späht sie erwartungsvoll über ihre Brillenränder. Dann huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.

Die Schüler wissen, dass die Frage nicht ganz ernst gemeint ist. Schließlich sind sie freiwillig hier. Durch das offene Fenster scheint die Sonne, die sich nach einem gewittrigen Tag durch die graue Wolkendecke gekämpft hat. Es war das erste Wärmegewitter des Jahres. Nun durchflutet der Sonnenschein den Kellerraum des Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften.


Ich sitze in der hintersten Reihe des Klassenraumes und erlebe ein seltenes Spektakel: Fünf berufstätige slowakische Muttersprachler drücken an diesem Nachmittag die Schulbank. Sie lernen Romani, die Sprache der Roma. Nicht nur für ihre Schüler, auch für Anna Koptová ist dieser Sprachkurs eine kleine Sensation. Er wird im Rahmen des überregionalen Förderprogramms Regsom-Regszom durch den EU-Regionalfonds (EFRE) finanziert. Für die Kursteilnehmer ist er kostenlos.

„Was haben Sie heute gegessen, Ondrej?“, fragt die Lehrerin auf Romani und richtet sich an den großen, hageren blonden Mann in der ersten Bank. Er hebt den Blick, lässt einen leisen Seufzer verlauten. „Gemüse….ähm…Reis…und...Olivenöl, “ presst er hervor. Sehr viel mehr kann Ondrej noch nicht sagen. Seit Februar erscheint er zweimal wöchentlich pünktlich um 16:30 Uhr zur Stunde.

Nach und nach bereitet die Lehrerin gemeinsam mit Ondrej das Mittagessen mit weiteren Vokabeln zu, bis eine reichhaltigen Mahlzeit aufgetischt ist: „Más heißt Fleisch, jandro heißt Ei. Ciral heißt Käse, kann aber auch Quark bedeuten“, erklärt sie. Wie so oft hat ein slowakisches Wort gleich mehrere Bedeutungen auf Romani. Die Schüler schreiben fleißig mit.


Nun geht das Wort an Peter, der seine Erlebnisse dieser Woche schildern soll. Der junge Mann ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde bei Košice mit einem hohen Roma-Bevölkerungsanteil. Durch seine Arbeit hat er bereits gute Vorkenntnisse der Fremdsprache. Doch nun scheitert er bei seiner Erzählung über einen Rollstuhlfahrer am entsprechenden Gefährt. „Hmm, verdan für Rollstuhl passt an dieser Stelle nicht“, unterbricht ihn die Lehrerin. „Wissen Sie, die Sprache der Roma ist in einer Zeit entstanden, als diese noch mit ihren Pferdewagen umherzogen. Rollstühle gab es damals noch nicht, “ sagt Koptová. „Sagen Sie doch „mašina“ oder helfen Sie sich mit einem Wort aus dem Slowakischen– das machen die Roma hierzulange genauso.“

Normalerweise unterrichtet die Schuldirektorin Kinder einer kleinen Privatschule im Stadtteil Nad jazerom, einem Siedlungsgebiet am äußeren Rand der Stadt. Die Kinder ihrer Schule kommen aus sozialschwachen Familien und leben fast ausschließlich in der berüchtigten Ghettosiedlung Lunik IX. Dass die Direktorin für den Sprachkurs die ganze Stadt per Tram durchqueren muss, macht ihr nichts aus. Für sie ist es ein großer Erfolg, dass sie überhaupt unterrichten kann. In der kommunistischen Ära war die Förderung von Minderheitensprachen, darunter Roma und Deutsch, verboten, bzw. nicht von staatlichem Interesse

Die meisten der 10 Kursteilnehmer treibt nicht etwa Neugier oder Nostalgie, sondern die pure Notwendigkeit hierher. Als Lehrer, Sozialarbeiter oder Polizisten stoßen sie in der Interaktion mit Roma aufgrund von sprachlichen Barrieren oft an ihre Grenzen.

Die Roma-Kinder in Peters Gemeinde sprechen nur ein paar Brocken Slowakisch. „Bei meiner täglichen Arbeit mit der lokalen Bevölkerung ist es einfach witzlos, wenn ein Dolmetscher übersetzen muss“, erklärt der Pfarrer. Auch die restlichen Teilnehmerinnen hat der Arbeitgeber auf den Sprachkurs aufmerksam gemacht.

Nur den hageren Ondrej treibt eine andere Motivation hierher. Er höre die Sprache der Roma täglich in der Straßenbahn, ohne sie zu verstehen. „Wir leben hier in zwei Kommunen nebeneinander und können so wie gar nicht miteinander kommunizieren.“ Mit der neu erlernten Sprache will Ondrej „Brücken bauen“ zwischen den Kommunen. Neulich erst rief er einer Gruppe Straßenmusikanten auf Romani zu „Toll, weiter so!“. Den Geigern fiel die Kinnlade herunter. Und der große, hagere Ondrej wuchs noch ein kleines bisschen höher.

Wenige Stunden nach dem Kurs erhalte ich eine lange Mail von Ondrej, in der er mir schreibt: „Wenn du einen Menschen in seiner Muttersprache ansprichst, öffnet sich dir der Weg zu seiner Seele.“ Ich antworte ihm auf Slowakisch mit dem beliebten Sprichwort meiner Mutter: „Je mehr Sprachen du sprichst, desto mehr bist du Mensch.“ 


Die Sprache der Sinti und Roma
Romani hat rund sechs Millionen Sprecher weltweit, davon allein 4,5 Millionen in Europa. Gemeinsam mit Sprachen wie Urdu und Hindi, gehört Romani zur indoarischen Sprachfamilie. Die Selbstbezeichnung der Roma (Rom „Mann“ oder „Ehemann“) ist indischen Ursprungs. Rom leitet sich möglicherweise aus dem Begriff Dom ab, dem Namen einer niedrigen Kaste von Wanderarbeitern (Musiker, Gaukler, Korbmacher, u.ä.).

Seit mehr als 800 Jahren hat sich Romani unabhängig von indischen Sprachen weiterentwickelt. Bis heute sind rund 700 Wörter indischen Ursprungs erhalten. In Europa haben sich zahlreiche Dialekte des Romani entwickelt, die sich von Region zu Region unterscheiden. 

Für mehr Infos: Marlene Mussner, OEW


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Welches ist nun das slowakische Nationalgetränk?



Fotografiert auf dem Platz der Befreier (Namestie osloboditelov)

                                      ...fragte sich auch die amerikanische Band Astronautalis in einem Hinterhof in Košice
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Freitag, 26. April 2013

Empörung in Košice – Wie die Tagesschau die Kulturhauptstadt verärgert





„Wie nehmen die Bewohner von Košice ihren Titel als Kulturhauptstadt wahr?“, werde ich oft von meinen deutschen Bekannten gefragt. Spätestens seit Januar steht die Kulturhauptstadt im medialen Rampenlicht. So viel Aufmerksamkeit ist sie nicht gewohnt. – So viel Kritik ebenso wenig.
Der eine Bevölkerungsteil beäugt mit Sarkasmus, aber heiterer Miene die offenen Baustellen in der Stadt. Die schwarzen Plakate mit pinker Aufschrift „Košice, Europäische Kulturhauptstadt“, die meterhoch die grauen Wände der Innenstadt schmücken, deuten auf Bombastisches hin. Hoffentlich werde wenigstens eines der großangelegten Projekte zum Ende des Kulturjahres fertig, rechtzeitig, wenn alle Touristen längst wieder abgereist seien, so die Kommentare.
Der andere Teil wirkt weniger amüsiert. Die Kränkung über die ausländische Auseinandersetzung mit der „Kulturhauptstadt Košice“ sitzt tief. Die ausländische Berichterstattung sei hart und ungerecht. Westliche Journalisten würden den Titel der Kulturhauptstadt bloß als Vorwand nutzen. Statt von den historischen und kulturellen Reichtürmern der Stadt zu berichten, seien sie in Wirklichkeit bloß scharf auf die wuchernden Roma-Ghettos in und um Košice. 
Dabei habe die Stadt so viel mehr zu bieten: Košice, das erstmals im Jahre 1230 schriftliche Erwähnung fand, dessen St.-Elisabeth-Dom die größte Kirche der gesamten Slowakei sowie zugleich das östlichste Bauwerk der europäischen Hochgotik darstellt! Košice, die Stadt, die seit jeher Ungarn, Slowaken, Juden, Deutsche und Ruthenen friedlich unter einem Dach beherbergt und von multikultureller Vielfalt gerade nur so sprüht! Warum bloß wollen die Ausländer immerzu die Lage der „Zigeuner“ thematisieren?
Ein Blick in die deutsche Berichterstattung über die „Kulturhauptstadt Košice“ zeigt zu Recht: Die Artikel sind voller Schreckensberichte über die Situation der hier lebenden Roma.
Im Tagesthemen-Bericht vom 20. Januar 2013, am Tag nach der Eröffnungsfeier der Kulturhauptstadt, lautet es sogleich am Anfang: „Die slowakische Stadt Kosice ist neben dem französischen Marseille jetzt offiziell europäische Kulturhauptstadt. […] Rund um Kosice herrscht große Armut. Die ärmsten der Armen sind die Roma.“
Schätzungen zufolge leben 25.000 Roma in Košice, rund 10 Prozent der Stadtbevölkerung. Längst ist das Wohnblockviertel "Lunik IX" zum Inbegriff der Roma-Problematik in Kosice geworden. Es ist Ende der 1970er Jahre entstanden und zählt zu den jüngsten Plattenbausiedlungen der Stadt. – Doch Häuser, die ähnlich zerstört sind, findet man hier kaum. Fehlende Fenster, ausgebrannte Türen, Müllberge stauen sich vor den grauen Betonbauten. In der ursprünglich für 2400 Bewohner gebauten Wohnsiedlung, leben heute schätzungsweise 7000 Menschen – oder mehr. So genau kann das keiner sagen, denn fast jemand traut sich dort hin. In einem Haushalt leben durchschnittlich 12-14 Personen. Nahezu alle Lunik IX-Bewohner gehören der Roma-Bevölkerung an. In den 498 Wohnungen zahlt so gut wie niemand Miete. Als Konsequenz hat die Stadt dauerhaft fließendes Trinkwasser, den Strom und die Heizung abgestellt. 
Auch der Artikel der Onlineausgabe der TAZ vom 23.03.2013 kritisiert die Situation der Ghettoisierung der Roma aufs Schärfste: „In Lunik IX sind die Fassaden längst abgefallen und der Kulturhauptstadt Kosice, die so stolz auf ihre Minderheitenvielfalt ist, ist es offensichtlich völlig egal, dass sich mitten in ihrer Stadt eine Tragödie abspielt, die das ganze Kulturmarketing von Košice als den eigentlichen Schandfleck erscheinen lässt.“
Ich glaube den Bewohnern ist die Situation der Roma alles andere als egal. Aber gerne reden sie nicht darüber, wie auch die Vizebürgermeisterin Renata Lenartová im Bericht auf 3sat eingesteht. 
Die Ratlosigkeit der Bevölkerung spiegelt sich in abstrusen Lösungsvorschlägen wider: von Deportationen nach Indien, bereits durchgeführten Sterilisationen von Roma-Frauen gegen Geld bis hin zum Vorschlag einer ansässigen Bewohnerin „auf Lunik IX müsse man eine Bombe abwerfen“.
Vermutlich hofft die Kauschauer Bevölkerung darauf, dass sich das Problem alsbald von selbst löst. Jährlich verlassen zig Familien das Ghetto und suchen bessere Lebensbedingungen in den westlichen Ländern der Europäischen Union. Die Schuldirektorin Anna Koptová, die fast ausschließlich Kinder aus Lunik IX unterrichtet, spricht von sechs Roma-Kindern, die im Laufe des letzten Schuljahres die Klasse verlassen haben. Dänemark, Schweden, Niederlande, England und Deutschland sind beliebte Ziele. – Das „Roma-Problem“ ist längst ein Europäisches.


Stelle ich einem Bewohner der Stadt Košice die Frage, ob er eine Idee habe, was zu tun sei gegen die Armut, die fehlende Bildung und die grassierende Arbeitslosigkeit der Roma, nimmt unser Gespräch eine rasante emotionale Wendung. Unsere Diskussion endet dabei immer mit der Erzählung eines persönlich erlebten Negativerlebnisses mit einem Roma. Am Ende eines jeden Zwiegesprächs komme ich mir hilflos vor.
Ausländische Journalisten und auch ich haben selbstverständlich nur unsere Außenperspektive. Es ist die beschränkte Sicht auf ein Problem, welches seine lange Vorgeschichte hat. Selbstverständlich ist es plakativ und medienwirksam auf die Schnelle nach Lunik IX zu fahren und dort die Armut zu filmen. Schwieriger ist es, sich dem Thema auf vielschichtige Weise zu nähern. 
Wir kennen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen kaum. Wir gehen nicht zur pränatalen Vorsorge und sehen zu, wie sich ein minderjähriges, hochschwangeres Roma-Mädchen ohne Ausweis, ohne Versichertenkarte zu ihrer ersten Kontrolle bei einer Frauenärztin vorstellt.
Wir ausländische Journalisten sind finanziell besser gestellt. Wir können selbstverständlich nicht beurteilen, wie es ist, nach über 40 Arbeitsjahren mit einer Rente von 200 € monatlich auszukommen. Wir müssen nicht beim Sozialamt Schlange stehen und zusehen, wie arbeitslose Roma-Eltern mit einer ganzen Kinderschar auftauchen und vor uns Sozialhilfe einkassieren. – Und nein, wir sind auf unserer kurzen Durchreise durch die Ostslowakei nicht zufällig von kleinen unschuldig dreinblickenden Roma-Kindern auf ganz hinterhältige Weise bestohlen worden. 
Aber dennoch sehen auch wir Ausländer die rauchenden Trabentensiedlungen auf dem Land, sehen die Müllberge, in denen Roma leben. Wir sehen die Löcher in den Wänden, die Roma (etwa mutwillig?!) ausgebrannt haben. Wir erschrecken, dass selbst schon ein Kindergartenkind zu wissen glaubt, dass „alle Zigeuner stinken und asozial sind“. – Wie können wir da wegsehen, weghören?
Nicht zuletzt graut es gerade uns deutschen Journalisten ganz besonders vor gesellschaftlich akzeptieren Unterscheidungen zwischen „Weißen“ und „Zigeunern“. Ethnische Bezeichnungen fallen hier alltäglich und so natürlich, dass die Bewohner von Košice diese gar nicht mehr wahrzunehmen scheinen. Genau dafür ist der „Blick der Fremde“ gut. Auch wenn er manchmal schmerzhaft ist.
Und doch: Das Kulturhauptstadtjahr Košice bietet eine Plattform für Roma. Ihre Einbindung in das kulturelle Programm ist zumindest in Ansätzen vorhanden. Sie geht über musikalische Einlagen hinaus, wie nicht zuletzt eine im Frühjahr realisierte Foto-Ausstellung „The Real People“ anschaulich darstellt. Sie zeigt keine „Zigeuner“, sondern eine Reihe integrierter Bürger unterschiedlicher Berufe mit Roma-Hintergrund. Solche Initiativen sind kleine Ansätze. Aber sie sind wichtig. Mehr davon!
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