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Dienstag, 28. Mai 2013

Der Wagon auf Gleis 3


Neben den zahllosen Festlichkeiten ist der Monat Mai auch Anlass für eine beklemmende Rückblende. Er erinnert an ein Ereignis, welches sich vor 69 Jahren auf dem Bahnhof von Kaschau abgespielt hat. 

In jenem Monat begannen die Deportationen von über 15 000 Juden: am 16. Mai 1944 verließ der erste Transport den Bahnhof in Richtung Auschwitz. Es war der erste von insgesamt fünf Zügen. Binnen zwei Wochen galt die Stadt als „judenfrei“.

Genau vor solch einem Wagon stehe ich gerade hier auf Gleis 3. Es ist die Eröffnung einer besonderen Ausstellung der Stiftung „Pochod živých“ (zu Deutsch: „Marsch der Überlebenden“). Ilona Novák, die ungarische Projektleiterin und Kuratorin dieser Wanderausstellung reist seit 2007 in ihrem Land von Bahnhof zu Bahnhof. Mit dem Wagon erinnert sie an die Deportation der 430.000 ungarischen Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Kaschau gehörte zwischen 1938 und 1945 zu Ungarn und wurde am 18. März 1944 von den Nationalsozialisten besetzt. Zu jener Zeit lebten hier mehr als 12.000 Juden. Sie machten etwa ein Fünftel der Stadtbevölkerung aus. Aufgrund seiner geografischen Lage verwandelte sich die Stadt zum „Hauptumschlagplatz“: von den 145 Güterzügen mit ungarischen Juden, passierten 137 den Bahnhof von Košice. Zum ersten Mal nach 69 Jahren steht hier nun wieder ein solcher Wagen aus Ungarn auf dem Gleis. 

„Drei bis vier Tage dauerte der Transport. Mit 80-100 Personen pro Wagon, einem Eimer voll Wasser und einem Eimer für Exkremente,“ trägt Csaba Kende vor. Seine Sätze klingen mechanisch abgehackt.
Die Stimme des alten Mannes zittert. Er liest schnell, sein Blick haftet auf dem gedruckten Text. Seine Hände umklammern den Zettel. Nicht ein einziges Mal während seines Vortrags schaut er in die Menge. Nach dem Vortrag stellt er sich Schutz suchend hinter die anderen Redner: den Vizebürgermeister Ján Jakubov, die ungarische Generalkonsulin Éva Czimbalmosné Molnár, den Stiftungsvorsitzenden Gábor Gordon und weitere.

Mir scheint, als fühlte ich sein Herz beben. Man erahnt, wie schwer ihm der Auftritt gefallen sein muss. Auch seine Familie wurde in einem solchen Wagon nach Auschwitz deportiert. Der damals elfjährige Junge, konnte sich dank Nachbarn und Freunden bis zum Kriegsende versteckt halten. Rund 450 Überlebende kehrten nach 1945 zurück in ihre Heimat Košice.



Ich stehe in der ersten Reihe, halte mich an meinem Schreibblock und Fotoapparat fest. In meiner linken Hand nimmt das Diktafon die Vortragenden auf, ich selbst höre nur mit halbem Ohr zu. 

Angesichts dieses einfachen Holzwagons, der so unwirklich anmutend im Bahnhof am Gleis steht, werden die Erzählungen meiner Großmutter Valéria Forbatová mit einem Mal lebendig. Ich sehe Frauen und Kinder vor mir, wie sie brutal in den Viehwagon geschubst werden. Ängstlich umklammern sie ihr weniges Hab und Gut - das Einzige, was sie mitnehmen dürfen auf ihrem Weg in das "Arbeitslager“. Für meine Großmutter, mit ihren 19 Jahren noch eine junge Frau, waren es die letzten gemeinsamen Stunden mit den Eltern und ihrem Bruder.

Ihrer Erzählung nach passierte alles so plötzlich. Niemand habe gewusst, warum und wohin sie gebracht würden. Košice, sagte sie, sei in ihrer Jugend eine multikulturelle Stadt gewesen, in der sie sogar kurz vor Kriegsausbruch keine antijüdischen Ressentiments zu spüren bekam. In ihrem Elternhaus spielten an Freitagabenden, dem Vorabend des Sabbats, Freunde unterschiedlicher Nationen und Religionen Karten bis spät in die Nacht. Ihr Vater Samuel Karp war als Optiker stadtbekannt und auch bei Nichtjuden sehr geschätzt. Seine Augenoptik durfte er noch bis zum Frühjahr 1944 ohne Einschränkungen führen. – Was aufgrund den seit 1938 bestehenden antijüdischen Gesetzen eine Ausnahme darstellte. Aber Brillenmacher waren rar zu jener Zeit.

Wenige Wochen nach der Besetzung der Nazis, mussten alle Juden den Judenstern tragen. Ohne wirklich zu begreifen, was vor sich ging, schaffte meine Großmutter es gerade noch ein paar geliebte Andenken sicher bei ihren nicht-jüdischen Bekannten zu verstecken. Kurze Zeit später wurde sie mit ihrer Familie und rund 12.000 Menschen in zwei Ziegelfabriken auf der Moldauer Straße zusammengepfercht. Auf zwei Quadratmetern teilten sich jeweils zwei Familien einen Raum. In diesen standen je ein Kübel für ihre Notdurft. Fließendes Wasser gab es keines. Am 3. Juni 1944 kamen sie in den letzten Transportzug mit rund 2600 Personen nach Auschwitz. Das versprochene "Arbeitslager" erwartete sie dort nicht.



Die Lautsprecheransagen erhallen auf dem Bahnsteig und unterbrechen für einen kurzen Moment meine Gedanken. Wir sind wieder in der Realität, im Hier und Jetzt. Ich atme auf. Die Menge klatscht. Die Reden sind vorüber. Die Menschenmenge strömt zur Ausstellung in den Wagon. Etwas orientierungslos verbleibe ich noch ein paar Minuten auf der Plattform. Auf Gleis drei in Košice.

Nachtrag



Buchtipp: 
Michael Okroy: Kaschau war eine europäische Stadt. Ein Reise- und Lesebuch über die jüdische Kultur und Geschichte in Košice und Prešov. (Arco Verlag, slowakisch/deutsch)

Die bürgerschaftliche Initiative "Občania občanom" („Bürger für Bürger“) setzt sich dafür ein, bis zum Jahr 2014, dem 70. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden, ein Holocaust-Denkmal zu erbauen. Ein solches Monument fehlt bis heute in Košice.

Das einzige öffentliche Gedenkzeichen in Kaschau zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer befindet sich an der Außenwand der orthodoxen Synagoge auf der Puškin-Straße.



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