Ich
gebe zu, in die Vorfreude auf meine neue Tätigkeit als Stadtschreiberin
mischte sich auch die Befürchtung, Dinge zu übersehen, die mir womöglich
gewöhnlich erscheinen. Schließlich habe ich Košice von klein auf jedes Jahr
besucht. Doch bereits nach den ersten Tagen muss ich feststellen: ich bin
selbst eine Fremde in meiner Geburtsstadt.
Während
der schier nie enden wollenden
Autofahrten in die Slowakei beobachtete ich als Kind die auf der
Fensterscheibe entlangrinnenden Regentropfen. Denn nach 14 Stunden Autofahrt
war jede Bewegung faszinierend. Dann plötzlich erschienen die ersten riesigen
Reklametafeln. Gelbe, bis in den Himmel ragende Straßenlaternen, die die
Fassaden der grauen Betonklötze in ein grelles Licht tauchten, hießen uns
willkommen.
Über
all die Jahre blieb der erste Eindruck Košices unverändert: das rauchende
Stahlwerk, sechsspurige, leere Straßen bei Nacht, das „Amphitheater“ – eine mit
bunten Stühlen bestückte halbrunde Sitzanlage aus den 1950ern – all das glitt schemenhaft an mir vorüber. Auch
bewegte ich mich nicht selbständig in der Stadt, nein ich wurde bewegt, von der
einer Oma zur anderen bugsiert und mit all den süßen Sünden wie „vanilkové rohlíčky“ oder „rumové mesiačiky“ verköstigt.
Gestern,
heute, diese Woche ist es nun anders. Ich entdecke die Stadt für mich neu. Es
ist, als würde jemand nach und nach die fehlenden Teile der Karte aufdecken,
die mir bislang als Terra
incognita verborgen blieben. Die Bilder fügen sich zusammen, Orte
bekommen ihre Namen, ihre Koordinaten.
Einer
dieser Neuentdeckungen ist das Ostslowakische
Museum auf dem Platz des Friedensmarathons in Košice. In dem
imposanten Bau der Neorenaissance befinden sich auf mehreren Etagen Exponate
zur Geschichte der Ostslowakei sowie die Schatzkammer der Stadt. Ehrlichgesagt
habe ich das Gebäude noch nie betreten, aus Angst vor übergroßen Jesuskreuzen
und mit Holzwürmern zerfressenen Marienstatuen.
Nun locken mich, wie auch viele andere Kunstinteressierte,
Fotografien französischer Künstlerinnen in das Museum. Die Ausstellung „Un
petit Journal“ (Ein kleines Tagebuch),
die noch bis zum 30. April zu sehen ist, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit
zwischen den beiden diesjährigen Kulturhauptstädten Košice und Marseille.
Die Fotografien der anwesenden Künstlerinnen Suzanne
Hetzel, Anne Laubet und Flore Gaulmier werfen einen Blick hinter die Kulissen
von Košice. Ihre Außensicht übt eine besondere Anziehungskraft auf die
neugierigen Besucher aus. - Vielleicht ist es eine Art innerer Voyeurismus? „Was
sehen diese fremden Künstlerinnen aus Marseille in meiner Heimat, die mir
manchmal so trist und trivial erscheint?“, fragt sich der Besucher.
Der Marseillerin Flore Gaulmier fielen auf ihren
nächtlichen Streifzügen durch Einkaufsstraßen die Vitrinen mit Dessous-Mode ins
Auge. Nachts erwachen die Schaufenster zum Leben. Die leicht bekleideten Puppen
inszenieren sich selbst auf ihren ausgeleuchteten Bühnen…
In den Vororten von Košice entdeckte Gaulmier in
grellen Pastelltönen gestrichene Einfamilienhäuser. Über Geschmack lässt sich
streiten. Die Fotografin betont, ihr gefielen die einzigartigen Fassaden. Ein
Besucher scherzt dagegen, die schrillen Farben seien einfach billiger.
Die Fotografin Anne Laubet inspirierten wiederum die
Plattenbausiedlungen, die den historischen Stadtkern wie ein Ring umsäumen. Anders
als in Marseille, lebt in Košice der Großteil der Bevölkerung in
Plattenbausiedlungen. „Während in Frankreich kaum mehr über deine Herkunft
verrät, als dein Wohnviertel, kannst du in Košice darüber wirklich keine
Schlüsse ziehen.“
Die Koexistenz vom kommunistischen Erbe und kapitalistischen
Hauruckaktionen werden insbesondere in den Wohnsiedlungen deutlich, so Anne
Laubet. Gläserne Shopping-Malls wie Optima und Aupark sprossen in den letzten
Jahren wie Pilze aus dem Boden, während die Plattenbausiedlungen weitestgehend
in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben sind.
Auch Adéla
Foldynová, meine Begleiterin auf der Vernissage, schätzt „den fremden Blick“
auf die Kulturhauptstadt. Als Leiterin von K.A.I.R.
– Košice Artist in Residence, einem interkulturellen Austauschprogramm
für Nachwuchskünstler, bemerkt sie, welchen Mehrwert die Außensicht von
ausländischen Künstler auf Košice habe. Die
Auseinandersetzung der Künstler mit der Stadt und ihrer Bevölkerung verändere
manchmal den Blickwinkel der Košicianer auf vermeintlich Bekanntes.
Zum Ende der Vernissage erweitern die
Marseiller Künstlerinnen dann noch ihre provenzalischen Weinkenntnisse um slowakischen
Rotwein – auch eine Möglichkeit des interkulturellen Austausches…