Donnerstag, 22. August 2013

Pravda – Wahrheit


Der 21. August erinnert an den Einfall der Armeen des Warschauer Paktes (UdSSR, Ungarn, Polen, Bulgarien) in die ehemalige Tschechoslowakei. Die Okkupation des Landes sollte die Reformversuche der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dubček aufhalten, der eine Liberalisierung und Demokratisierung des sozialistischen Regimes anstrebte.

In Košice erinnern sich viele Zeitzeugen an den Einfall der sowjetischen Armee, als wäre er erst gestern geschehen. Auf der Fußgängerzone von Kaschau berichteten mir die Einwohner am gestrigen Tag von ihren Erlebnissen. Eine neue Tafel wurde zum Gedenken an die getöteten Bürger von Košice angebracht. Viele Menschen kamen anlässlich dieses Ereignisses zusammen. Nur eine Person fehlte, an die ich am vergangenen Tag unentwegt denken musste: Tibor Kováč.

Ich erinnere mich genau, wie aufgeregt ich gewesen bin, als ich das erste Mal den 76-jährigen Herrn im Seniorenheim besuchte. Tibor Kováč saß in seinem Rollstuhl und sah auf, als ich sein Zimmer betrat. Erst wenig später fiel mir auf, dass er an mir vorbei lugte. Denn der ältere Herr war nahezu blind. Er forderte mich lächelnd auf, mich zu setzen, was bei mir zunächst für Ratlosigkeit sorgte, denn in dem kleinen Zimmer mit dem ockerfarbenen, glänzenden PVC-Boden stand nichts außer einem Schrank, einem Bett, einem mobilen Beistelltisch und einem Tresor.

So setzte ich mich ans Fußende des Bettes und stellte mich behutsam meinem Gegenüber vor. Dieser wollte ganz genau wissen, mit wem er es zu tun hatte und fragte mich sogleich nach meinem Presseausweis. „Ich kann Ihnen auch meinen zeigen, wenn Sie wollen, ich habe ihn immer noch“, sagte der Mann und kramte etwas unbeholfen in der kleinen gelben Tasche, die er an einem Band unter dem Hemd versteckt hielt. 

Schließlich, als ich ihm erzählte, dass ich als Stadtschreiberin in Kaschau tätig bin, erhellte sich seine Miene. „Da haben wir etwas gemeinsam, Fräulein Kristina, ich darf Sie doch so nennen, oder sind Sie etwa verheiratet?“ Für einen kurzen Moment huschte ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht und ich stellte mir vor, wie gut Tibor Kováč in seinen jungen Jahren ausgesehen haben muss. - Damals, mit 31 Jahren, während des Prager Frühlings, als er noch flink und frei auf den Beinen stand und für das Technische Museum in Košice fotografierte. Ich sah ihn vor meinen Augen, wie er sich im Künstlerclub mit seiner Clique, allesamt abstrakte Künstler, traf und wie sie dort begeistert, heimlich flüsternd Alexander Dubčeks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" diskutierten.

 „Wissen Sie, Fräulein Kristina, wir haben etwas gemeinsam…“, er legte eine bedächtige Pause ein und hob den Zeigefinger: „Beide sind wir Tageschronisten. Beide dokumentieren wir den Alltag in Kaschau. Allein schon aus diesem Grund bin ich verpflichtet, Ihnen jede Frage nach besten Wissen und Gewissen zu beantworten. Das ist meine Pflicht als Journalist gegenüber der Öffentlichkeit!“ Mit feierlicher Miene und einem nachdrücklichen Ruck lehnte er sich in seinem Rollstuhl zurück. Es trat eine kleine Pause ein und ich konnte mir ein breites Lächeln nicht verkneifen. Ich war ehrlich begeistert.

„Ich habe noch bis vor kurzem täglich die Stadt fotografisch dokumentiert. Unabhängig davon, was mir damals zugestoßen ist, “ sagte Kováč und zeigte erklärend auf sich und seinen Rollstuhl herunter. Der Tag des 21. August 1968, vor genau 45 Jahren, sollte Tibor Kováčs Leben verändern. Da sich Košice nahe der ukrainischen Grenze befindet, erreichten die russischen Panzer die Innenstadt bereits gegen vier Uhr in der Früh. Niemand hatte mit einer Besatzung des „Brudervolkes“ gerechnet. „Ich erinnere mich an jenen Tag, wie heute. Das sind schreckliche Momente. Zufällig habe ich am Morgen um 8 Uhr die Nachrichten im Radio gehört. Erst dachte ich, es handele sich um ein Hörspiel. Dann kam ich aber schnell darauf, dass es um eine ernste Sache geht. Ich packte geschwind meinen Fotoapparat ein und eilte in die Innenstadt, wo ich schon einen großer Menschenauflauf vorfand.“

Etwa 1200 Menschen versammelten sich auf einer Kreuzung, als Tibor Kováč zu früher Stunde den Ort des Geschehens erreichte. Protestplakate wurden hochgehalten „Wir sind für Dubček“, „Es lebe die Freiheit“ „Es lebe die Demokratie“. Pikanterweise protestierten die Menschen an jenem Morgen auf dem „Platz der Befreier“ gegen die russische Armee, genau an jenem Ort, auf dem ein gigantisches Denkmal an die sowjetischen Soldaten erinnert, die zum Kriegsende von 1945 die Stadt befreiten.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
Kováč sah viele ratlose Gesichter angesichts der rollenden Panzer, die in Reih und Glied an den Einwohnern von Košice vorbezogen. Dennoch blieb es bis auf einige Backsteinwerfer relativ friedlich auf dem Platz. Einige Menschen versuchten mit den russischen Soldaten zu diskutieren, andere boten ihnen hämisch Brot und Salz an, ein gebräuchlicher Willkommensgruß.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968
„Die Russen waren total desorientiert. Sie erwarteten einen militärischen Aufstand. In einem Transistorradio hörte ich, dass die Rede von einer Konterrevolution war, “ erinnerte sich Kováč. Er fotografierte die Ereignisse, bis er gegen 11.30 Uhr den Platz verließ, um Batterien für seinen Fotoapparat zu wechseln. Kurz darauf kehrte er wieder zurück. Inzwischen war die friedliche Stimmung gekippt. „Ein Junge hat einen Stein auf einen Panzer geworfen, daraufhin wurde er erschossen. Nachdem der erste Schuss in die Menschenmenge gefallen ist, ist die Situation eskaliert. Die Leute fingen an die Panzer anzuzünden und die militärischen Wagen umzuwerfen, “ fuhr er fort.

Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968

Das letzte Motiv, welches Tibor Kováč an jenem Tag aufnahm, war jenes eines Panzers: im Hintergrund war ein Gebäude auf dem „Platz der Befreier“ zu sehen. Auf dem Dach des Hauses war die Aufschrift „Pravda“ (Wahrheit) angebracht, der Schriftzug einer Tageszeitung. Seine Fotografien ließ er noch am selben Tag in seinem Fotolabor entwickeln.

Am Abend auf dem Heimweg kehrte er zurück zum „Platz der Befreier“. Inzwischen war kaum eine Menschenseele zu sehen. Stille war eingekehrt. Einige letzte Panzer rollten über die Straße. „Ich wollte die letzte Straßenbahn nehmen. Dann plötzlich hörte ich ein Knacken, “ sagte Kováč. Es war 20.10 Uhr. Eine Kugel hatte den Fotografen im Kopf getroffen.

Tibor Kováč überlebte den Kopfschuss. Ärzte kämpften tagelang um sein Leben. Eine Freundin hatte ihm vier Tage später seine Aufnahmen vom 21. August ins Krankenhaus geschmuggelt. „Damit haben wir ein Stück Kaschauer Geschichte in Sicherheit gebracht!“, sagte er heute mit Abstand. Es gelang ihm bis zum Mauerfall die Fotografien versteckt zu halten. Von der Geheimpolizei wurden er und sein Umfeld aber mehrmals verhört.


Als ich ihn bei einem anderen Besuch bat, mir seine Fotografien vom Tag der Besatzung zu zeigen, veränderte Kováč augenblicklich die Miene und mahnte mich leiser zu sprechen. „Wir werden alle überwacht“, raunte er mit Furcht in der Stimme. Seine körperliche Verletzung ist ihm anzusehen. Doch was die vielen Jahre des real existierenden Sozialismus psychisch in ihm auslösten, bleibt für die Augen unsichtbar.

Tibor Kováč stellte seine Fotografien erstmalig im Jahr 2000 im Technischen Museum von Košice aus. Eine Entschädigung hat er nie erhalten. Er lebt heute zurückgezogen in einem Seniorenheim.

Aufschrift: Kováč R-O-V - Hackfleisch
Bei Protesten der Zivilbevölkerung im Zuge der Besetzung starben in der Slowakei 29 Menschen. In Košice starben am Tag der Invasion sechs Bürger und mindestens 57 Personen wurden verletzt.

Anmerkung: alle Fotografien dürfen mit freundlicher Genehmigung von Tibor Kováč auf dieser Seite veröffentlicht werden.

Weitere, erstmalig veröffentliche Fotografien sind hier zu finden.

Filmaufnahmen vom Einfall der sowjetischen Armee in die Stadt Kaschau am 21.08.1968

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Montag, 19. August 2013

Vom singenden und fliegenden Vogel Iva Bittová


Im Rahmen des Sommerfestivals in Kaschau "Leto v parku" (Sommer im Park), gab die tschechische Sängerin, Komponistin und Violinistin Iva Bittová zusammen mit der Gruppe Čikori am vergangenen Samstag ein Konzert auf dem ehemaligen Kasernengelände (Kasarne/Kulturpark). Iva Bittová ist eine international bekannte Künstlerin. In ihrer Heimat ist sie eine bedeutende Erscheinung in der alternativen Szene.

Mit einer Mischung aus Jazz, Folklore, Klassik und Klängen aus dem Urwald verzauberte die Künstlerin nicht nur mich mit ihrem kindlichen Charme. Ihre Einlagen als singender und fliegender Vogel sind einmalig. Viele junge Kaschauer sangen ihre Lieder lauthals mit. An ihren lächelnden Gesichtern war zu erkennen, dass sie als Kinder mit Musikkassetten Iva Bittovás aufgewachsen sind…Für mich war sie eine echte Entdeckung.

  

Iva Bittová wurde 1958 in Bruntál in Mähren geboren, beide Elternteile waren Musiker. Ihr Vater, Koloman Bitto, der seiner südslowakischen Heimat sehr verbunden war, konnte nahezu jedes Instrument spielen, sowohl im klassischen Stil als auch in der Folklore. Er gab sein Talent an Iva und ihre beiden Schwestern weiter.

In ihren jungen Jahren erhielt Iva Ballett- und Geigenunterricht. Im südmährischen Brünn besuchte sie ein sogenanntes "Konservatorium", eine Mittelschule in Tschechien und der Slowakei mit musischem Schwerpunkt. Bereits während ihrer Schulausbildung spielte sie in dem experimentellen Theater in Brünn "Gans an der Schnur". Später trat sie im Fernsehen sowie in verschiedenen Filmen auf und arbeite als Theaterschauspielerin.

Nach dem frühen Tod ihres Vaters entschied sie sich, als Musikerin und Komponistin, in seine Fußstapfen zu treten. Sie konzentrierte sich fortan verstärkt auf ihre musikalische Ausbildung und begann ab 1982 Geige zu studieren. 

Nachdem 17 Jahre lang die ländliche Region bei der Stadt Brünn ihr Zuhause gewesen war, übersiedelte sie 2007 in die USA. Dort lebt sie im grünen Hinterland News Yorks im Hudson-Tal. Ihr 1991 geborene Antonín ist ebenfalls Musiker.

Mehr Infos zu ihrer Musik und ihren aktuellen Konzerten gibt es hier.  Noch mehr zu sehen und zu hören hier.


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Sonntag, 18. August 2013

Interview für das Interkulturelle Magazin des Bayerischen Rundfunks


Das Interview in der Radiosendung B5 aktuell - Das interkulturelle Magazin ist hier zu hören, der Einzelbeitrag hier:
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Bayerischen Rundfunks. Ansonsten beachten Sie bitte, dass die eingangs zu hörende Nutzungsbestimmung gilt.

Sendezeit: Sonntag, 11.August um 13.05 Uhr

Das Gespräch führte André Vincze
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Freitag, 16. August 2013

Ein Stück Heimat im Gepäck


„Fühlst du dich hier Zuhause in der Stadt?“, werde ich oft gefragt. Mit "hier" ist Košice/Kaschau gemeint, die slowakische Stadt, in der ich zufällig geboren wurde. Zuhause. - Ist es das wirklich? Heimat. Welche Bedeutung kommt ihr zu, wenn Menschen meiner Generation ständig ihre Tasche packen und sich auf den Weg machen zum nächsten Projekt. Immer auf Achse. So frei und doch so rastlos zugleich. 

Neulich traf ich Peter Korchnak aus Portland, Oregon. Der gebürtige Kaschauer verließ vor zehn Jahren der Liebe wegen den europäischen Kontinent. Peter erzählte mir, wie er vor Kurzem seinen Job kündigte, sein Haus und Auto verkaufte, und nun ein Jahr lang mit seiner Ehefrau durch die Welt reist. Seiner Meinung nach ist Zuhause dort, wo die eigene Zahnbürste ist. Darüber schreibt er auch auf seinem Blog.

Es stimmt, viel Materielles braucht es gar nicht, um sich wohl zu fühlen, solange einen die Menschen herzlich empfangen. Auf einen Gegenstand könnte ich dennoch nie verzichten: Bei meinem Auszug aus dem Elternhaus bekam ich einen kleinen Espressokocher. Er begleitet mich seitdem auf Schritt und Tritt. Bei jedem Umzug landet er in meinem Rucksack. Und das schon seit acht Jahren.

Immer auf dem „Sprung“ zu sein und mit wenig Gepäck zu reisen, kennt auch József Tamás Balázs, kurz BaJóTa. Der ungarische Künstler hat ebenso wie ich für ein paar Monate in Košice Unterschlupf gefunden. Seinen Aufenthalt verdankt er dem internationalen Programm „K.A.I.R. – Košice Artists in Residence“. Das mehrmonatige Stipendium für Nachwuchskünstler beherbergte seit dem Jahr 2010 etwa 30 ausländische Künstler und schickte 20 junge Slowaken in die Welt.

Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich BaJóTa das erste Mal im Fabricafe derTabačka Kulturfabrik“* begegnete. Es war Mitte April und BaJóTa, „der Neue“ Artist in Residence aus Budapest wandelte lautlos ins Café. Sein Gang war so unauffällig, als schwebte er über den Boden. Seine Art sich zu bewegen und zu reden war behutsam und bedächtig. Auf Anhieb erweckte BaJóTa meine Sympathie. 

Wir unterhielten uns über sein künstlerisches Projekt in Košice. Im Unterschied zu anderen kreativen Geistern, versank BaJóTa nicht in ellenlangen Selbstreflexionen über sein Werk, deren tieferen Sinn ich nur im Entferntesten erahnen konnte. Er sinnierte hingegen darüber, wie er seine großen, sperrigen Arbeiten nach Ausstellungsende von A nach B transportieren werde. Der junge Bildhauer berichtete von auseinandernehmbaren Holzelementen und handlichen Papierfalttechniken. Fast enttäuscht war ich von solch unfassbarer Bodenständigkeit eines Künstlers und bemerkte dabei gar nicht, dass die Ausführungen  Gegenstand seines eigentlichen Projektes waren. Zugleich waren sie auch seine intimsten Gedanken und Zweifel. Denn der Künstler erzählte von seinem rastlosen, zuweilen ratlosen Dasein, der fortwährenden Mobilität und Flexibilität, die er sich selbst abverlangte.

Letzte Woche konnte ich mir ein Bild davon machen, als BaJóTas Ausstellung in einer Halle auf dem Gelände der ehemaligen Tabakfabrik eröffnet wurde.




Der Künstler schreibt über seine Arbeit: “I deal with the subject of leaving your homeland. The keywords linked to the concept of the installation are: home and wanderlust, social integration, modern migration and cultural globalisation.” 

BaJóTa in seinem Studio

BaJóTa inspirieren die mobilen Holzzäune aus seiner Heimat im ländlichen Transsilvanien, mit denen Schafhirten von Wiese zu Wiese zogen. Diese mobilen Zäune und Schindeldächer aus Kiefernholz sind ihm seit Kindesbeinen vertraut. Für das Studium verließ BaJóTa seine Heimat. Jetzt holte er sie ganz nah zu sich zurück, und zwar direkt auf den Rücksitz seines kleinen roten Fiats. Ende August zieht BaJóTa mit seinen Kunstwerken weiter. Auf, zum nächsten Projekt.


Nachtrag


BaJóTas Ausstellung „Utopiatrap“ ist dienstags bis donnerstags von 17-19 Uhr bis zum 31.August zu sehen. (Ort: Strojárenska 3, durchs Eingangstor gelangt man über zwei Innenhöfe zur Ausstellung)

Das leerstehende Fabrikgelände wird von selbständigen Künstlern, Designergruppen u. a. für ihre Arbeiten zu günstigen Mietpreisen genutzt. Die Räumlichkeiten gehören dem Kulturzentrum des Selbstverwaltungsbezirkes Košice, welches dort auch ansässig ist.

Im Innenhof der ehemaligen Tabakfabrik
*Die „Tabačka Kulturfabrik“, befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Tabakfabrik in der Nordstadt. Sie hat sich zu DEM Treffpunkt für die junge Künstlerszene entwickelt und stellt das alternative Pendant zur städtischen „Hochkultur“ dar. Neben Parties, Filmabenden, Theatervorstellungen und Vorträgen organisiert sie jährlich das Open Air Festival POKEfest. Die „Tabačka“ bringt ein Stück Industriekultur nach Košice und ist ein lebendiger, unabhängiger Raum für junge Kreative.

Im Innenhof des "Fabricafe Tabačka“
 

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Sonntag, 11. August 2013

Košice 2013 EHMK – eine große Unbekannte


Viereinhalb Monate lebe ich nun schon in Košice. Höchste Zeit darüber zu schreiben, was die Kaschauer wirklich über ihren Titel als Kulturhauptstadt denken. Ein Stimmungsbericht.


Ende März, als ich mitten im trüben Regenwetter mit dem Nachtzug im Bahnhof von Košice landete, war die Stadt in einem schwerfälligen Grau versunken. Die Bahnhofshalle wirkte durch die Großbaustelle wenig einladend (und ist es bis heute noch). Mit dem Auto fuhr mein Großvater Slalom zwischen den vielen Schlaglöchern, die auf der Straße ein lustiges Flicken-Muster gebildet hatten. Der vom harten Winter aufgeplatzte Asphalt sorgte für allgemeine Empörung unter den Einwohnern, die mit wachsender Skepsis beobachteten, was seit Januar in ihrer Stadt vor sich ging.

Auf übergroßen schwarzen Plakaten mit Astronautenfiguren kündigte sich unter dem pinkfarbenen Akronym EHMK (Europäische Kulturhauptstadt Košice) eine große Unbekannte an. Mit diesem Titel verbanden die Einwohner von Košice anfangs die unzähligen Baustellen, die seit Juli letzten Jahres das Stadtbild und die Geräuschkulisse prägten. 

Kein guter Start. Doch vermutlich verankert sich im Gedächtnis der Bürger immer zunächst der Baulärm, der das Kulturhauptstadtjahr ankündigt. Mit Angst und Schrecken bemerkten die Einwohner, dass ihre Straßen und Parks „zerstückelt seien“, als tobe sich gerade ein wild gewordenes Ärzteteam aus Brüssel in ihrer Heimat aus.



Noch bis Ende April waren deutlich mehr Baggergeräusche als Stadtmusikanten zu vernehmen. Die 7,5 Millionen teure Kunsthalle und der Kasarne/Kulturpark, für den allein 24 Millionen Euro aus den Mitteln der EU-Fonds fließen, sind die kostspieligsten Projekte des Jahres. Dass die Umbaumaßnahmen erst im Sommer vergangenen Jahres begannen, sorgte für allgemeines Unverständnis. Mitunter wird die Bergung einer Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg als Verzögerungsgrund für die beginnenden Arbeiten im Kulturpark genannt.


Doch je öfter Eröffnungstermine verschoben wurden, desto mehr argwöhnten die Einwohner, dass die Projekte dieses Jahr gar nicht mehr fertig gestellt würden. Das über drei Hektar große ehemalige Kasernengelände sollte noch in diesem Sommer in einen Kulturpark umgewandelt werden. Die offizielle Eröffnung wurde vor kurzem erneut auf September verschoben, auch wenn das Festival „Leto v Parku“ (Sommer im Park) auf selbigem Areal bereits seit Anfang August auf vollen Touren läuft. Drei ehemalige Kasernengebäude werden in multifunktionale Räumlichkeiten für Kunst, Tanz und Theater umfunktioniert. Zudem sollen Nachwuchskünstler und junge Kreative dort bald zu günstigen Tarifen Büros und Ateliers mieten können. Gleich vor Ort sollen sie Ideen austauschen, Netzwerke bilden.

So einfach und vielversprechend das klingt, so wenig können in Wahrheit alteingesessene Einwohner mit Termini wie „Kulturinkubator“ oder „Kulturpark“ anfangen. Neulich wurde ich Zeugin einer heftigen Debatte über den Unsinn, einer Ausstellungshalle in der Ostslowakei den deutschsprachigen Namen „Kunsthalle“ zu geben, wo doch die große Bevölkerungsmehrheit mit diesem Begriff nichts anfangen könne. Ich verteidigte daraufhin die „Kunsthalle“ mit aller Vehemenz, trägt sie doch den international üblichen Titel einer Galerie mit wechselnden Ausstellungen ohne hauseigener Kunstsammlung. Doch das wollten meine Gesprächspartner schon gar nicht mehr hören. 

Die häufig wiederkehrende Schelte der lokalen Bevölkerung lautet, die Aktivitäten der Kulturhauptstadt seien auf die Mitarbeiter des Organisationsteams zugeschnitten, statt auf die Interessen und Bedürfnisse der Einwohner einzugehen. „Da hat man irgendwelche Clowns an Positionen gesetzt, die gar keine Ahnung haben von den Menschen in Košice und von der Geschichte der Stadt“, höre ich hier des Öfteren. Die wachsende Distanz zwischen „denen“ und „uns Bürgern“ ist spürbar. Viele Menschen vor Ort fühlen sich schlichtweg nicht integriert oder angesprochen vom Programm der Kulturhauptstadt.

Die multikulturelle Stadt Košice. So gern sie dieses Bild von sich verkauft, so unsichtbar sind einige hier lebende Minderheiten auf den städtischen Bühnen. Nach Veranstaltungen zur deutschen und ungarischen Geschichte der Stadt sucht man vergeblich im offiziellen „Programm booklet 2013“. Dabei ist bekannt, dass die Stadt Košice seit dem 11. Jahrhundert dem Ungarischen Königreich angehörte, und das bis ins Jahr 1918. Die „villa Cassa“, die 1230 erstmalig urkundlich erwähnt wird, ist aus einer slawischen/slowakischen und einer deutsch-flämischen Siedlung entstanden. Von der Geschichte der deutschen Siedler in der mittelalterlichen Stadt Kaschau und ihrer Bedeutung weiß heute kaum jemand.

Im August des Jahres 2013 schreitet das Kulturhauptstadtjahr allmählich auf sein letztes Drittel zu. Nicht nur Menschen unter den älteren Generationen, selbst viele junge Kreative fragen sich ernsthaft: „Was wird mit all den neu initiierten Projekten nach Ablauf des Jahres 2013 geschehen?“ Sie befürchten, dass die „nachhaltigen“ Projekte, wie die Verwandlung alter Wärmespeicher in Kulturzentren, nach Ablauf des Jahres wieder ungenutzt sein werden.

Ein ehemaliger Pferdestall wird zur Galerie im Kasarne/Kulturpark

Kaum jemand der Einwohner traut der Stadtverwaltung zu, die vielen neuen kulturellen Gebäude, die der Öffentlichkeit dienen sollen, langfristig finanzieren und mit Leben füllen zu können.

Woher kommt diese große Skepsis der Bürger von Košice? Warum sind sie so wenig enthusiastisch?  

neues Kulturzentrum Važecká
Die Angst vor neuartigen Projekten, die in dieser Form erstmalig auf slowakischen Boden entstanden, ist verständlich. Nirgendwo sonst glitzern gläserne Pavillons auf einem ehemaligen Kasernengelände, in dem nun Workshops für Laienkünstler stattfinden werden. Nirgendwo sonst landete ein Asteroid in einer Plattenbausiedlung am See. Nirgendwo sonst planschen in einem ehemaligen Schwimmbecken Skulpturen namhafter Künstler.

Das alles ist ein Novum, eine große Unbekannte. Die Stadt verändert ihr Gesicht in diesem einen Jahr so rasant wie noch nie zuvor. Kaschau und ihre Menschen gehen ein echtes Wagnis ein, obgleich ein großes Misstrauen vorherrscht gegenüber der Politik, dem Staat sowie der Administration – nicht zuletzt zählt für die Bürger auch die kulturelle Non-Profit-Organisation Košice 2013 EHMK dazu. Dieses starke Misstrauen gegenüber den Obrigkeiten ist sicherlich historisch bedingt. Über 40 Jahre Kommunismus hinterlassen auch 23 Jahre nach dem Zusammenfall des Ostblocks seine Spuren. 

Die Skepsis der Menschen gegenüber staatlichen Organisationen findet man vermutlich in der ganzen Slowakei. Doch speziell in Košice hat sie einen noch pikanteren Beigeschmack: Gerade die älteren Einwohner von Kaschau gehörten in ihrem einen Leben gleich mehreren politischen Systemen an. Da wird sie das Kulturhauptstadtjahr auch nicht mehr von den Socken reißen. Meine Großmutter sagte einmal: „Unsere Familie lebte in fünf Republiken: wir waren zunächst Ungarn, dann für kurze Zeit Tschechoslowaken, später wurden wir wieder zu Ungarn. Irgendwann plötzlich waren wir nicht mehr erwünscht. Schließlich waren wir alle gleich und jetzt sind wir alle frei.“ Wer so viele politische Umbrüche und Regimewechsel miterlebte, ohne sich dabei auch nur einen Schritt vom Fleck zu bewegen, dem sei ein Hang zur Skepsis und etwas mehr Eingewöhnungszeit gewährt…

Über die Skepsis siegte zuletzt doch die Neugier: Am 3. August, dem Auftakt des Sommerfestivals „Leto v Parku“ (Sommer im Park), drängten sich zweitausend Einwohner auf dem ehemaligen Kasernengelände, dem neuen Kulturpark. Die Musik der Bands lockte sie auf den großzügigen Platz, die Wiesen sowie in die frischrenovierten Hallen und Ausstellungsräume. Mit einem derartigen massenhaften Andrang hatten die Organisatoren selbst nicht gerechnet. 

Den Kaschauern wünsche ich, dass ihr Wagnis gelinge und sie lange noch vom Kulturhauptstadtjahr profitieren werden. Vieles verändert sich, so viel Neues ist hier möglich. Das spüre ich täglich. Um mit den Worten des römischen Kaisers Marc Aurel (121-180) abzuschließen: Das Universum ist Veränderung, unser Leben ist, was wir daraus machen...“




Nachtrag

Das Festival „Sommer im Park“ ereignet sich in Košice bereits das fünfte Mal in Folge, diesmal erstmalig auf dem rekonstruierten Gelände des Kasarne/Kulturparks. Zahlreiche Konzerte sowie Filmvorführungen, Theater- und Literaturveranstaltungen finden vom 3. bis zum 25. August statt. (Programm des Festivals.) 

(lediglich auf Slowakisch - schade, dass es für Schlüsselprojekte der Kulturhauptstadt, wie Kasarne/Kulturpark oder die Kunsthalle Košice (HUK), keine englischsprachigen Internetauftritte gibt!)

Der Kasarne/Kulturpark (kurz vor der Eröffnung)
 

 


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