Der
21. August erinnert an den Einfall der Armeen des Warschauer Paktes (UdSSR,
Ungarn, Polen, Bulgarien) in die ehemalige Tschechoslowakei. Die Okkupation des
Landes sollte die Reformversuche der tschechoslowakischen Kommunistischen
Partei unter Alexander Dubček aufhalten, der eine Liberalisierung und
Demokratisierung des sozialistischen Regimes anstrebte.
In
Košice erinnern sich viele Zeitzeugen an den Einfall der sowjetischen Armee,
als wäre er erst gestern geschehen. Auf der Fußgängerzone von Kaschau
berichteten mir die Einwohner am gestrigen Tag von ihren Erlebnissen. Eine neue
Tafel wurde zum Gedenken an die getöteten Bürger von Košice angebracht. Viele
Menschen kamen anlässlich dieses Ereignisses zusammen. Nur eine Person fehlte,
an die ich am vergangenen Tag unentwegt denken musste: Tibor Kováč.
Ich
erinnere mich genau, wie aufgeregt ich gewesen bin, als ich das erste Mal den
76-jährigen Herrn im Seniorenheim besuchte. Tibor Kováč saß in seinem Rollstuhl
und sah auf, als ich sein Zimmer betrat. Erst wenig später fiel mir auf, dass
er an mir vorbei lugte. Denn der ältere Herr war nahezu blind. Er forderte mich
lächelnd auf, mich zu setzen, was bei mir zunächst für Ratlosigkeit
sorgte, denn in dem kleinen Zimmer mit dem ockerfarbenen, glänzenden PVC-Boden
stand nichts außer einem Schrank, einem Bett, einem mobilen Beistelltisch und
einem Tresor.
So
setzte ich mich ans Fußende des Bettes und stellte mich behutsam meinem
Gegenüber vor. Dieser wollte ganz genau wissen, mit wem er es zu tun hatte und
fragte mich sogleich nach meinem Presseausweis. „Ich kann Ihnen auch meinen
zeigen, wenn Sie wollen, ich habe ihn immer noch“, sagte der Mann und kramte
etwas unbeholfen in der kleinen gelben Tasche, die er an einem Band unter dem
Hemd versteckt hielt.
Schließlich,
als ich ihm erzählte, dass ich als Stadtschreiberin in Kaschau tätig bin,
erhellte sich seine Miene. „Da haben wir etwas gemeinsam, Fräulein Kristina,
ich darf Sie doch so nennen, oder sind Sie etwa verheiratet?“ Für einen kurzen
Moment huschte ein verschmitztes Lächeln über sein Gesicht und ich stellte mir
vor, wie gut Tibor Kováč in seinen jungen Jahren ausgesehen haben muss. - Damals, mit 31 Jahren, während des Prager Frühlings, als er noch flink und frei
auf den Beinen stand und für das Technische Museum in Košice fotografierte. Ich
sah ihn vor meinen Augen, wie er sich im Künstlerclub mit seiner Clique, allesamt
abstrakte Künstler, traf und wie sie dort begeistert, heimlich flüsternd
Alexander
Dubčeks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" diskutierten.
„Wissen
Sie, Fräulein Kristina, wir haben etwas gemeinsam…“, er legte eine bedächtige
Pause ein und hob den Zeigefinger: „Beide sind wir Tageschronisten. Beide
dokumentieren wir den Alltag in Kaschau. Allein schon aus diesem Grund bin ich
verpflichtet, Ihnen jede Frage nach besten Wissen und Gewissen zu beantworten.
Das ist meine Pflicht als Journalist gegenüber der Öffentlichkeit!“ Mit
feierlicher Miene und einem nachdrücklichen Ruck lehnte er sich in seinem
Rollstuhl zurück. Es trat eine kleine Pause ein und ich konnte mir ein breites Lächeln
nicht verkneifen. Ich war ehrlich begeistert.
„Ich
habe noch bis vor kurzem täglich die Stadt fotografisch dokumentiert.
Unabhängig davon, was mir damals zugestoßen ist, “ sagte Kováč und zeigte
erklärend auf sich und seinen Rollstuhl herunter. Der Tag des 21. August 1968,
vor genau 45 Jahren, sollte Tibor Kováčs Leben verändern. Da sich Košice nahe
der ukrainischen Grenze befindet, erreichten die russischen Panzer die
Innenstadt bereits gegen vier Uhr in der Früh. Niemand hatte mit einer
Besatzung des „Brudervolkes“ gerechnet. „Ich erinnere mich an jenen Tag, wie
heute. Das sind schreckliche Momente. Zufällig habe ich am Morgen um 8 Uhr die
Nachrichten im Radio gehört. Erst dachte ich, es handele sich um ein Hörspiel. Dann
kam ich aber schnell darauf, dass es um eine ernste Sache geht. Ich
packte geschwind meinen Fotoapparat ein und eilte in die Innenstadt, wo ich schon
einen großer Menschenauflauf vorfand.“
Etwa 1200 Menschen versammelten sich auf einer Kreuzung, als Tibor Kováč zu früher
Stunde den Ort des Geschehens erreichte. Protestplakate wurden hochgehalten
„Wir sind für Dubček“, „Es lebe die Freiheit“ „Es lebe die Demokratie“.
Pikanterweise protestierten die Menschen an jenem Morgen auf dem „Platz der
Befreier“ gegen die russische Armee, genau an jenem Ort, auf dem ein
gigantisches Denkmal an die sowjetischen Soldaten erinnert, die zum Kriegsende
von 1945 die Stadt befreiten.
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Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968 |
Kováč
sah viele ratlose Gesichter angesichts der rollenden Panzer, die in Reih und
Glied an den Einwohnern von Košice vorbezogen. Dennoch blieb es bis auf einige
Backsteinwerfer relativ friedlich auf dem Platz. Einige Menschen versuchten mit
den russischen Soldaten zu diskutieren, andere boten ihnen hämisch Brot und
Salz an, ein gebräuchlicher Willkommensgruß.
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Foto: Tibor Kováč, 21.08.1968 |
„Die
Russen waren total desorientiert. Sie erwarteten einen militärischen Aufstand.
In einem Transistorradio hörte ich, dass die Rede von einer Konterrevolution
war, “ erinnerte sich Kováč. Er fotografierte die Ereignisse, bis er gegen
11.30 Uhr den Platz verließ, um Batterien für seinen Fotoapparat zu wechseln.
Kurz darauf kehrte er wieder zurück. Inzwischen war die friedliche Stimmung
gekippt. „Ein Junge hat einen Stein auf einen Panzer geworfen, daraufhin wurde
er erschossen. Nachdem der erste Schuss in die Menschenmenge gefallen ist, ist
die Situation eskaliert. Die Leute fingen an die Panzer anzuzünden und die
militärischen Wagen umzuwerfen, “ fuhr er fort.
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Foto: Tibor
Kováč, 21.08.1968 |
Das
letzte Motiv, welches Tibor Kováč an jenem Tag aufnahm, war jenes eines
Panzers: im Hintergrund war ein Gebäude auf dem „Platz der Befreier“ zu sehen.
Auf dem Dach des Hauses war die Aufschrift „Pravda“ (Wahrheit) angebracht, der Schriftzug einer Tageszeitung. Seine Fotografien ließ er noch am selben
Tag in seinem Fotolabor entwickeln.
Am
Abend auf dem Heimweg kehrte er zurück zum „Platz der Befreier“. Inzwischen war
kaum eine Menschenseele zu sehen. Stille war eingekehrt. Einige letzte Panzer
rollten über die Straße. „Ich wollte die letzte Straßenbahn nehmen. Dann
plötzlich hörte ich ein Knacken, “ sagte Kováč. Es war 20.10 Uhr. Eine Kugel
hatte den Fotografen im Kopf getroffen.
Tibor
Kováč überlebte den Kopfschuss. Ärzte kämpften tagelang um sein Leben. Eine
Freundin hatte ihm vier Tage später seine Aufnahmen vom 21. August ins
Krankenhaus geschmuggelt. „Damit haben wir ein Stück Kaschauer Geschichte in
Sicherheit gebracht!“, sagte er heute mit Abstand. Es gelang ihm bis zum Mauerfall die Fotografien versteckt
zu halten. Von der Geheimpolizei wurden er und sein Umfeld aber mehrmals
verhört.
Als
ich ihn bei einem anderen Besuch bat, mir seine Fotografien vom Tag der
Besatzung zu zeigen, veränderte Kováč augenblicklich die Miene und mahnte mich
leiser zu sprechen. „Wir werden alle überwacht“, raunte er mit Furcht in der
Stimme. Seine körperliche Verletzung ist ihm anzusehen. Doch was die vielen
Jahre des real existierenden Sozialismus psychisch in ihm auslösten, bleibt für die Augen
unsichtbar.
Tibor
Kováč stellte seine Fotografien erstmalig im Jahr 2000 im Technischen Museum
von Košice aus. Eine Entschädigung hat er nie erhalten. Er lebt heute zurückgezogen
in einem Seniorenheim.
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Aufschrift: Kováč R-O-V - Hackfleisch |
Bei
Protesten der Zivilbevölkerung im Zuge der Besetzung starben in der Slowakei 29
Menschen. In Košice starben am Tag der Invasion sechs Bürger und mindestens 57 Personen wurden
verletzt.
Anmerkung: alle Fotografien dürfen mit freundlicher Genehmigung von Tibor
Kováč auf dieser Seite veröffentlicht werden.
Weitere, erstmalig veröffentliche Fotografien sind
hier zu finden.
Filmaufnahmen vom Einfall der sowjetischen Armee in die Stadt Kaschau am 21.08.1968