Gestern erst
steckte sie mir mit einem Augenzwinkern eine Schachtel wohlduftender, mit Mohn gefüllter Hörnchen zu. Stolz fügte sie hinzu, das Rezept für die sogenannten „Pressburger Mohnhörnchen“ stamme von Irena
Košiková höchstpersönlich. Die hierzulande nur als Frau
Čirina bekannte Hausdame, kochte
jahrelang für keinen geringeren als den damaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel. Und dieser konnte nicht genug davon kriegen...
Montag, 22. April 2013
Der Duft der Donaumonarchie
Freitag, 19. April 2013
„Why does Julia Mensch need 20 kilos of apples?“
Diese etwas merkwürdige Frage
lockt mich durch das Tor von Vítez in einen versteckten Hinterhof der Kaschauer
Hauptgasse auf die Ausstellungseröffnung der argentinischen Künstlerin Julia Mensch.
Mein erster Blick fällt auf zwei Netzsäcke gefüllt mit roten Äpfeln. Es ist das
erste Exponat der Ausstellung „Salashi“. Der Ort "Salashi" ist zugleich Namensgeber und Thema der Ausstellung, in der die Künstlerin ihre eigene Familiengeschichte aufarbeitet. Die Räume im Pyecka Studio sind nur wenige Quadratmeter klein, doch die hohen gewölbten Decken
des neugotischen Altbaus lassen sie groß erscheinen.
Julia Mensch, eine zierliche
Person mit dunklen Haaren, steht angesichts der hohen Besucherzahl etwas
schüchtern in der Ecke des Ausstellungssaals. Julia beginnt den vielen
Besuchern ihrer Reise nach Salashi zu erzählen, zumindest jenem Teil, der
Englisch versteht.
Die Reise der Argentinierin auf
den Spuren ihres jüdischen und kommunistischen Großvaters Rafael beginnt vor acht Jahren in Buenos Aires und führt sie quer durch Europa bis in das ukrainische
Dorf Salashi, dem Geburtsort und die Heimat ihrer argentinischen Familie.
Ein beruhigendes Knacken dreier
alter Dia-Projektoren begleitet Julias Erzählung, die im regelmäßigen Rhythmus
Bilder an die Wand werfen. Kick-knack. Das nächste Foto erscheint. Es zeigt eine
Hütte inmitten von Wäldern, greise Frauen mit geblümten Kopftüchern und gefalteten
Händen vor ihren Häusern. Ein fremder Ort in einer anderen Zeit – oder ist die
Zeit dort einfach nur stehengeblieben?
Salashi, das ukrainische
800-Seelen-Dorf, umgeben von Bäumen und Wiesen, liegt wenige Kilometer vor
polnischem Gebiet und grenzt somit unmittelbar an die europäische
Schengen-Zone. Läuft man ein paar Kilometer durch das Walddickicht, stößt man
unwillkürlich auf Zäune und Wachposten der ukrainischen Militärbasis.
Die 33-Jährige ist dort auf der
Suche nach dem Geburtshaus ihres Großvaters. Julias Urgroßvater verlässt
1927/28 aufgrund einer großen Hungersnot das damals noch polnische Gebiet, mit
dem Versprechen seiner Familie ein besseres Leben in Südamerika zu ermöglichen.
1935 folgen ihm seine vier Söhne – allesamt minderjährig – per Dampfschiff,
darunter Julias damals achtjähriger Großvater Rafael. Die Mutter der Brüder
sitzt indes aufgrund illegalen Saccharin-Handels im Gefängnis fest. Nach ihrer
Freilassung überquert auch sie den atlantischen Ozean. In Buenos Aires beginnt
für Julias Großvater Rafael ein neues Leben – 45 Jahre später kommt seine
Enkeltochter Julia zur Welt.
Sie ist die Erste der Familie
Mensch, die in die ukrainische Heimat zurückkehrt. In Salashi findet sie nicht
nur das Geburtshaus ihres Großvaters – eine einfache Holzhütte, die heute als
Bibliothek im nahezu unveränderten Zustand dient – sie trifft auf ehemalige Bekannte ihres Großvaters Rafael, die sie willkommen heißen und auch gleich zu
hausgemachter Wurst und Schnaps ins Haus einladen.
Der Projektor wirft ein neues Bild an die Wand. Apfelbäume. Eine Wiese voller Äpfel. Moos, dichtes, hohes Gras. Malerische Natur. Eine vertraute Idylle. Julia umringt von Dorfbewohnern.
Die Menschen in Salashi leben in
einfachen Verhältnissen. Sie besitzen nicht viel. Doch das Wenige, was sie
besitzen, teilen sie. Und so kommt es, dass die Fremde in der Heimat ihrer
Ahnen, schwer bepackt, mit Säcken voller Äpfel, aber glücklich ihren Rückweg
antritt. Diese Erfahrung und auch ein paar der Früchte lässt sie nun auch in Košice
zurück.
Nachtrag
Die Fotos von Julia Mensch sind
noch bis Ende April im Pyecka Studio
zu sehen. Das Buch über ihre Reise liegt in spanischer Sprache, mit
englischer, slowakischer und ukrainischer Übersetzung vor.
Julia Mensch gehört zu einen der
„Artists in Residence“, die im vergangenen Jahr im Rahmen des K-A-I-R Programms
einen dreimonatigen Aufenthalt in Košice verbracht haben.
Ich bleibe noch eine Weile auf
der Ausstellung und beobachte tief versunken das Drehrad der Dia-Projektoren,
im Hintergrund vernehme ich Stimmengewirr unterschiedlicher Sprachen. Das leise
Gemurmel verebbt von einem Moment auf den anderen. Einige Mädchen singen ein
Volkslied in einer mir fremden, doch dem slowakisch ähnlicher Sprache. Alle
lauschen der Melodie, die in der Akustik der hohen Decken des Gewölbebaus zu
schweben scheint. Ein magischer Moment.
Montag, 15. April 2013
Der Klang der Stadt
Ich stehe auf Zehenspitzen und
lehne mich heraus aus dem Fenster meiner Dachwohnung. Wenn die Nacht über
Košice hereinbricht, setzt ein bedächtiges Rauschen über den Dächern ein. Der Umriss der gotischen Elisabethkirche zeichnet sich gespenstisch ab vor
dem Halbdunkel der beleuchteten Straßen der Altstadt.
In der Ferne vernehme ich
das Rattern vorbeifahrender Züge, ab und zu ein leises Brummen und Knattern der
Straßenbahnen. Sonst ist nichts zu hören. Keine menschliche Stimme, kein Gelächter, kein Klappern
von Stöckelschuhen auf Pflasterstein dringt zu mir vor. In der abendlichen
Stille tritt dieses summende, monotone Rumoren ein, als brodele es ganz leise
in der Tiefe eines Suppentopfes.
Aussicht auf die Dominikanerkirche |
Diese besondere Akustik verdankt
Košice seiner Lage im Talkessel der Westkarpaten am Ufer des Flusses
Hernad.
Um den historischen Kern der Stadt türmen sich Plattenbausiedlungen auf den hügeligen Rändern des Tales, die Košice wie eine Stadtmauer beschützen. Die weiß-grauen Betonbauten sind im Zuge des sprunghaften Bevölkerungswachstums seit den 1960er Jahren entstanden und wirken wie wüst aufgestellte Dominosteinhaufen.
Um den historischen Kern der Stadt türmen sich Plattenbausiedlungen auf den hügeligen Rändern des Tales, die Košice wie eine Stadtmauer beschützen. Die weiß-grauen Betonbauten sind im Zuge des sprunghaften Bevölkerungswachstums seit den 1960er Jahren entstanden und wirken wie wüst aufgestellte Dominosteinhaufen.
Morgens kocht der Topf über. Da
ist zunächst ein durchdringend sägender Ton, der durch die Wand zu meinem
Nachbarn dringt und mich weckt. Dann erklingen die Tonleitern aus der
Musikhochschule von der gegenüberliegenden Straßenseite. Geigen, Klarinetten
spielen ihre Morgenübung.
Sobald die Stadt erwacht,
verwandelt sich der leise brodelnde Kessel in einen dröhnenden Moloch, aus dem
jedes Hupen, jede Sirene vielfach verstärkt wiederhallt. – Ein Hauch von Los
Angeles in Košice…
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Freitag, 12. April 2013
„Bos es dos?“ – Besuch bei den Mantaken in Metzenseifen
Ich
verlasse Košice und fahre Richtung Südwesten in den kleinen Ort Medzev, zu
Deutsch Metzenseifen. Dort soll die kleine deutschsprachige Gemeinde der
Mantaken etwas versteckt im Slowakischen Karst leben. Von Mantaken habe ich
noch nie zuvor gehört, obwohl sie nur 30 Kilometer westlich von Košice entfernt
leben und das seit 800 Jahren…
Bereits
vor der Fahrt warnt man mich vor dem schlechten Zustand der slowakischen Straßen.
Nach dem ungewöhnlich harten Winter seien zahlreiche der flüchtig mit Asphalt
gefüllten Teerflicken wieder aufgeplatzt. Auf der Landstraße in Richtung Jasov wimmelt
es dann nur so vor Schlaglöchern. Ich weiche ihnen aus, wie auf einer Slalomstrecke.
Dabei muss ich unwillkürlich an meinen Cousin denken, der mich erst kürzlich fragte,
woran man einen betrunkenen slowakischen Autofahrer erkenne: Nüchterne
Autofahrer fahren Slalom, betrunkene geradeaus. – Soweit meine Einführung in den
trockenen slowakischen Humor.
Die
kurvige Landstraße führt mich abwechselnd durch langgezogene Dörfer und ödes Weideland.
Es folgen finstere Waldgebiete und mich beschleicht das Gefühl mich verfahren
zu haben. Dann endlich ein Ortschild: Jasov. Von hier ist es laut Karte nur
noch ein Katzensprung nach Medzev.
Plötzlich verwandelt sich die Fahrbahn zum Fußweg. Drei Mädchen laufen Hand in Hand unbeschwert auf der Gegenspur, eine Gruppe Jugendlicher zieht einen Schubkarren mit Brennholz vor sich her. Direkt an der Hauptstraße von Jasov lebt die Roma-Bevölkerung in dicht besiedelten Häusern.
Es raucht aus den Hütten, die teilweise nur mit Wellblech verkleidet sind. Überall
türmt sich der Müll auf. Unweit der Roma-Siedlung prangen auf einer Anhöhe stolz
die beiden Türme des Prämonstratenser-Klosters von Jasov. Dahinter erstrecken
sich die Gebirgszüge des Slowakischen Erzgebirges. Weiß blitzt das Gestein unter
dem dichten Wald des Slowakischen Karsts hervor. Wie unmittelbar hier doch Idylle
und die harte Realität der Roma beieinander liegen.
Vorbei an der „Schule“ der Roma – einem ausgebrannten Betonklotz – fahre ich weiter Richtung Metzenseifen. Das deutsch-slowakischsprachige Ortsschild Medzev-Metzenseifen heißt mich willkommen. Es deutet auf eine lange Geschichte deutscher Siedler hin, die bis ins frühe Mittelalter zurückgeht. Nachdem reiche Erzvorkommen im Bodwatal entdeckt wurden, sandte der ungarische König Bela IV. Mitte des 13. Jahrhunderts seine Boten in den Westen, um deutsche Bergleute und Handwerker anzuwerben.
Metzenseifen entwickelte sich alsbald
zu einem wichtigen Wirtschaftszentrum und genoss selbst am kaiserlichen Hof durch
seine Schmiedekunst ein hohes Ansehen. 1842
waren 109 Hammerschmieden mit
198 Essen in Betrieb – zu jener Zeit die weltweit höchste Konzentration. Heute ist von dem alten Glanz kaum noch etwas zu spüren.
Eine Hammerschmiede soll angeblich noch in Betrieb sein. Doch als ich vorbeifahre,
wirkt sie wie ausgestorben. Inzwischen sind die meisten Bewohner in der Holzwirtschaft beschäftigt. Doch
die Arbeitslosigkeit greift hier um sich, unschwer an den betrunkenen Männern
zu erkennen, die auf den Gehwegen entlangtorkeln.
Schon beim
Aussteigen aus dem Auto, werde ich prompt von einem alkoholisierten Bewohner auf
Slowakisch nach einer Zigarette gefragt. Ich versuche mich auf Deutsch heraus
zu reden: „Ich verstehe nichts“. Doch überraschend hilft mir das nicht weiter: Der
Mann wechselt sogleich ins Deutsche. Das passiert mir zum ersten Mal in diesem
Land.
Metzenseifen
gilt heute als DIE Hauptstadt der Deutschen der Slowakei. 400 der knapp 4300
Bewohner zählen sich laut der letzten Volkszählung von 2011 zur deutschen
Minderheit. 1999 waren es fast doppelt so viele.
Ich
treffe Helmut Bistika, einen freischaffenden Künstler und
Kunstpädagogen aus Medzev, in seinem Café am Kirchplatz. Das Galérie-Café ist eine Oase. Der wohlduftende Hauch
von Café, Zimt und Schokolade steht im starken Kontrast zum Geruch von
Brennholz, der die Straßen der Stadt durchströmt. Während im Ort einige Schaufenstervitrinen
den Eindruck erwecken, als stünden sie seit Jahren leer, erstrahlen die im
Galérie-Café ausgestellten Gemälde in leuchtenden Farben.
Vor zwei Jahren hat Helmut Bistika gemeinsam mit seiner Frau die Räumlichkeiten restauriert. Die beiden haben sich ihren Traum erfüllt. Aber an das liebevoll eingerichtete Café mit gefliester, lachsfarben schimmernder Theke gewöhnen sich die Bewohner offensichtlich nur langsam. Selten betritt lokale Kundschaft sein Café.
Helmut
Bistika gehört wohl zu den wenigen, die nach 1960 geboren sind und dennoch
fließend Mantakisch sprechen. Dass in der Familie Bistika noch Dialekt
gesprochen wird, ist inzwischen alles andere als selbstverständlich. Nur noch
selten wird Mantakisch an die Nachkommen weitergegeben. - Eine vom
Aussterben bedrohte Sprache.
Mantakisch klingt in meinen Ohren wie antiquiertes Bayerisch. Dabei täuscht der Eindruck,
denn auch Siedler aus anderen deutschen Regionen, wie Thüringen und der
Rhein/Main-Gegend beeinflussten die Sprache im Ort über die Jahrhunderte.
Wie
kommt es, dass sich der mantakische Dialekt über Jahrhunderte hinweg gerade in Metzenseifen
erhalten konnte? Es muss an der Abgeschiedenheit des Bodwatals
liegen. Im Gegensatz zu anderen karpatendeutschen Siedlungsgebieten in der
Slowakei gab es hier weniger Zuwanderung anderssprachiger Volksgruppen.
An
einer Wand des Cafés entdecke ich ein Gedicht auf mantakisch. Ich versuche die Bedeutung der Sätze zu entziffern. Es handelt sich um einen
Auszug aus der Ballade 'Die Metzenseifner Kirch' des Heimatdichters Peter
Gallus. „Hond“ statt „Hund“ und „Grond“ statt „Grund“. „Was ist das“ wird zu “
„Bos es dos“ – Ich muss unweigerlich schmunzeln, weil mir das Kinderlied „Drei
Chinesen mit dem Kontrabass“ in den Sinn kommt.
Helmut
wendet sich unterdessen einer Traube Frauen mittleren Alters zu. Der Künstler
beginnt wild gestikulierend in geheimnisvollen Mantakisch mit den Damen zu sprechen
und verschwindet kurzerhand. Die Freude über diese seltenen Gäste ist ihm
anzusehen. Während er für seine Kunden Sachertorte zubereitet, frage ich die
Damen, wo ich mehr über mantakische Kultur und Geschichte erfahren könne. Sie raten
mir, mich an die Mitglieder des Karpatendeutschen Vereins zu wenden, die sich einmal
die Woche zum Singen treffen.
Fotostrecke Metzenseifen
Donnerstag, 11. April 2013
Sonntag, 7. April 2013
Mit fremden Augen
Ich
gebe zu, in die Vorfreude auf meine neue Tätigkeit als Stadtschreiberin
mischte sich auch die Befürchtung, Dinge zu übersehen, die mir womöglich
gewöhnlich erscheinen. Schließlich habe ich Košice von klein auf jedes Jahr
besucht. Doch bereits nach den ersten Tagen muss ich feststellen: ich bin
selbst eine Fremde in meiner Geburtsstadt.
Während
der schier nie enden wollenden
Autofahrten in die Slowakei beobachtete ich als Kind die auf der
Fensterscheibe entlangrinnenden Regentropfen. Denn nach 14 Stunden Autofahrt
war jede Bewegung faszinierend. Dann plötzlich erschienen die ersten riesigen
Reklametafeln. Gelbe, bis in den Himmel ragende Straßenlaternen, die die
Fassaden der grauen Betonklötze in ein grelles Licht tauchten, hießen uns
willkommen.
Über
all die Jahre blieb der erste Eindruck Košices unverändert: das rauchende
Stahlwerk, sechsspurige, leere Straßen bei Nacht, das „Amphitheater“ – eine mit
bunten Stühlen bestückte halbrunde Sitzanlage aus den 1950ern – all das glitt schemenhaft an mir vorüber. Auch
bewegte ich mich nicht selbständig in der Stadt, nein ich wurde bewegt, von der
einer Oma zur anderen bugsiert und mit all den süßen Sünden wie „vanilkové rohlíčky“ oder „rumové mesiačiky“ verköstigt.
Gestern,
heute, diese Woche ist es nun anders. Ich entdecke die Stadt für mich neu. Es
ist, als würde jemand nach und nach die fehlenden Teile der Karte aufdecken,
die mir bislang als Terra
incognita verborgen blieben. Die Bilder fügen sich zusammen, Orte
bekommen ihre Namen, ihre Koordinaten.
Einer
dieser Neuentdeckungen ist das Ostslowakische
Museum auf dem Platz des Friedensmarathons in Košice. In dem
imposanten Bau der Neorenaissance befinden sich auf mehreren Etagen Exponate
zur Geschichte der Ostslowakei sowie die Schatzkammer der Stadt. Ehrlichgesagt
habe ich das Gebäude noch nie betreten, aus Angst vor übergroßen Jesuskreuzen
und mit Holzwürmern zerfressenen Marienstatuen.
Nun locken mich, wie auch viele andere Kunstinteressierte,
Fotografien französischer Künstlerinnen in das Museum. Die Ausstellung „Un
petit Journal“ (Ein kleines Tagebuch),
die noch bis zum 30. April zu sehen ist, ist ein Ergebnis der Zusammenarbeit
zwischen den beiden diesjährigen Kulturhauptstädten Košice und Marseille.
Die Fotografien der anwesenden Künstlerinnen Suzanne Hetzel, Anne Laubet und Flore Gaulmier werfen einen Blick hinter die Kulissen von Košice. Ihre Außensicht übt eine besondere Anziehungskraft auf die neugierigen Besucher aus. - Vielleicht ist es eine Art innerer Voyeurismus? „Was sehen diese fremden Künstlerinnen aus Marseille in meiner Heimat, die mir manchmal so trist und trivial erscheint?“, fragt sich der Besucher.
Der Marseillerin Flore Gaulmier fielen auf ihren
nächtlichen Streifzügen durch Einkaufsstraßen die Vitrinen mit Dessous-Mode ins
Auge. Nachts erwachen die Schaufenster zum Leben. Die leicht bekleideten Puppen
inszenieren sich selbst auf ihren ausgeleuchteten Bühnen…
In den Vororten von Košice entdeckte Gaulmier in grellen Pastelltönen gestrichene Einfamilienhäuser. Über Geschmack lässt sich streiten. Die Fotografin betont, ihr gefielen die einzigartigen Fassaden. Ein Besucher scherzt dagegen, die schrillen Farben seien einfach billiger.
Die Fotografin Anne Laubet inspirierten wiederum die Plattenbausiedlungen, die den historischen Stadtkern wie ein Ring umsäumen. Anders als in Marseille, lebt in Košice der Großteil der Bevölkerung in Plattenbausiedlungen. „Während in Frankreich kaum mehr über deine Herkunft verrät, als dein Wohnviertel, kannst du in Košice darüber wirklich keine Schlüsse ziehen.“
Die Koexistenz vom kommunistischen Erbe und kapitalistischen Hauruckaktionen werden insbesondere in den Wohnsiedlungen deutlich, so Anne Laubet. Gläserne Shopping-Malls wie Optima und Aupark sprossen in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden, während die Plattenbausiedlungen weitestgehend in ihrem ursprünglichen Zustand geblieben sind.
Auch Adéla Foldynová, meine Begleiterin auf der Vernissage, schätzt „den fremden Blick“ auf die Kulturhauptstadt. Als Leiterin von K.A.I.R. – Košice Artist in Residence, einem interkulturellen Austauschprogramm für Nachwuchskünstler, bemerkt sie, welchen Mehrwert die Außensicht von ausländischen Künstler auf Košice habe. Die Auseinandersetzung der Künstler mit der Stadt und ihrer Bevölkerung verändere manchmal den Blickwinkel der Košicianer auf vermeintlich Bekanntes.
Zum Ende der Vernissage erweitern die Marseiller Künstlerinnen dann noch ihre provenzalischen Weinkenntnisse um slowakischen Rotwein – auch eine Möglichkeit des interkulturellen Austausches…
Dienstag, 2. April 2013
Nachtzug nach Košice
In Pascal Merciers
Roman nimmt Raimund Gregorius den Nachtzug nach Lissabon. – Mein
Nachtzug geht nach Košice. Wie der Protagonist des gerade verfilmten Romans stehe
auch ich vor der Frage „Wenn […] wir
nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit
dem Rest?“
Ich will es wagen
– mein kleines slowakisches Abenteuer. Packe meine Koffer, steige in Hamburg in den Zug und fahre
Richtung Osten. In Košice, der 240.000 Seelen Stadt, der zweitgrößten der Slowakischen
Republik, liegen meine Wurzeln. Hier bin ich 1986 geboren. Es ist die Heimat
meiner Familie. Auch meine ist es auf eine Weise. Sie wäre es geworden, hätten meine
Eltern sich damals nicht entschieden dem Sozialismus den Rücken zu kehren. Sie
setzten meine Schwester und mich auf die Rückbank unseres Škodas
und auf ging es in den Westen. – Wir
können nur einen kleinen Teil von dem leben, was in uns ist. Nun habe ich fünf Monate lang Zeit zu entdecken,
wie sich dieser Teil anfühlt.
Ich will als Stadtschreiberin ganz nah sein an Košice,
seinen Menschen und der Umgebung. An dieser kleinen Stadt in der
Ostslowakei, die sich noch etwas schüchtern gewöhnen muss an ihren Titel der „europäischen
Kulturhauptstadt 2013“. Seit jeher ist Košice Schmelztiegel verschiedener Kulturen und
Bräuche und steht sinnbildlich für Völkerwanderungen, Kriege und Wirrungen im
Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Košice wechselte binnen weniger Jahrzehnte
mehrfach die Staatsangehörigkeit – ohne sich dabei auch nur einen Schritt vom
Fleck zu bewegen. Wer kann dies schon von sich behaupten?
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten hier Juden, Deutsche, Ungarn
und Slawen friedlich miteinander. Bis heute sind viele Bewohner der Stadt
Košice bilingual. Daneben konnten sich einige wenige deutschsprachige Inseln in
der Region halten – der forcierten Assimilierung durch das ungarische
Königreich und den russischen Besatzern nach dem Zweiten Weltkrieg zum Trotz. In
ostslowakischen Orten wie Metzenseifen oder Stoß spricht man heute noch
den „mantakischen
Dialekt“.
Wie wirkt sich die wechselvolle
Geschichte der Stadt Košice und der Umgebung auf ihre Bewohner aus? Welche
Erfahrungen machten sie in den politischen Umbrüchen? Mit welchen
Herausforderungen lebt hier die junge Generation, die bereits im
post-kommunistischen Staat aufgewachsen ist?
Nachtzug nach Košice - in Bildern
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