Freitag, 7. Juni 2013

Sagenumwobenes Metzenseifen


Als Sarah Neumann zum ersten Mal von der kleinen Gemeinde Metzenseifen in der Ostslowakei hört, in der „mantakisch“ gesprochen wird, ist sie zunächst ungläubig. 

Von Karpatendeutschen in Rumänien hat die Frankfurterin schon des Öfteren gehört. Aber von einem deutschen Dialekt, der sich seit dem Mittelalter im Bodwatal erhalten haben soll, erfährt die 20-Jährige zum ersten Mal in Kaschau. Hier, 30 km entfernt von Metzenseifen, lebt sie seit 10 Monaten und unterrichtet im Rahmen des Kulturweit-Freiwilligendienstes an zwei Kaschauer Gymnasien. 

Es dauert nicht lange, da erkundet Sarah das „Tal der Mantaken“ und besucht die Grundschule in Metzenseifen. Gemeinsam mit den Kindern beschließt sie ein Theaterstück auf die Beine zu stellen. Es handelt von der Entstehungsgeschichte Metzenseifens, die auf einer Jahrhunderte alten Sage beruht.


Nach dieser floss ein Bächlein auf dem Hauptplatz der heutigen Gemeinde, der einen großen Sumpf bildete. In diesem Sumpf soll ein Drache gelebt haben, der die Bewohner in großen Schrecken versetzte, da er junge Mädchen und Frauen fraß. Die Bewohner berieten, wie sie am besten den dreizehnköpfigen Drachen töten könnten. Die alte Schusters Witwe kam schließlich auf eine Idee: sie schmolz einen Haufen Pech und formte daraus eine Puppe. Der Puppe zog sie die Metzenseifner Tracht über und stellte sie nachts an den Sumpf. Der Drache fiel auf den Trick hinein, fraß die Puppe und verbrannte, sodass nur noch ein Haufen Asche von ihm übrig blieb. Das Feuer trocknete den Sumpf aus und die Bewohner konnten daraufhin auf dem trockenen Grund ihre Siedlung bauen.


„Die Kinder blühen richtig auf, seitdem Sarah mit ihnen das Theaterstück übt. Schon lange hat bei uns kein Muttersprachler mehr unterrichtet“, sagt eine junge Lehrerin aus Metzenseifen. Auf der Grundschule wird Deutsch bereits ab der ersten Klasse gelehrt, in einigen Klassen bis zu sechs Stunden pro Woche. Daneben lernen die Schüler noch weitere Fremdsprachen wie Englisch und Russisch. Mantakisch steht nirgends auf dem Lehrplan. Dabei besteht das Lehrerkollegium zu 50 Prozent aus Mantaken. Unter sich sprechen die Lehrer ausschließlich Dialekt. Sie geben schmunzelnd zu, dass Mantakisch so etwas wie „ihre Geheimsprache“ sei.

Inzwischen verstehen nur noch 2-3 Schüler pro Klasse diesen seltenen Dialekt. 1993 beherrschte ihn noch die Hälfte der Schüler. Die Tendenz sinkt seit über 60 Jahren. Gertrúda Schürgerová, die stellvertretende Schuldirektorin, erklärt: „Mantakisch lernen die Kinder nur, wenn beide Eltern Mantaken sind und zuhause die Sprache praktizieren.“ –  Doch das ist heute nur noch selten der Fall. 

Dass der Unterricht der deutschen Sprache seit den 1990er Jahren wieder in Metzenseifen und anderen slowakischen Gemeinden mit deutschen Minderheiten gefördert wird, begrüßt Walter Bistika, der Fotograf und Stadtchronist Metzenseifens. „Doch es geht zu Lasten des mantakischen Dialektes. Den sprechen einzig die Alten, und die sterben nach und nach aus, “ sagt der 84-Jährige im fließenden Hochdeutsch.

Der dreizehnjährige Matej Drábik gehört zu einem dieser wenigen Kindern im Ort, die von klein auf mit dem mantakischen Dialekt großgeworden sind. Bis zu seinem fünften Lebensjahr sprach er fließend Mantakisch. „Als ich eingeschult wurde, konnte ich kaum ein Wort Slowakisch, also hörte meine Mutter auf mit mir im Dialekt zu sprechen.“ – Immerhin, seine Sprachkenntnisse reichen aus, um im mantakischen Dialekt die Drachensage vorzutragen. Walter Bistika lässt sich das seltene Spektakel nicht entgehen und kommt täglich zur Theaterprobe. Er feilt gemeinsam mit Matej an den letzten Feinheiten in seinem Sprechertext.


Hier zum Nachhören:


Das Theaterstück, welches dreizehn Schüler der siebten Klasse der Metzenseifner Grundschule  einstudieren, ist auf Deutsch, Slowakisch und Mantakisch. „Wir wollten alle drei Sprachen einbinden, damit jeder Besucher, egal welcher Sprache er mächtig ist, das Stück versteht," erklärt Sarah Neumann.

Unter Leitung der Kulturweit-Freiwilligen Sarah Neumann, des deutschen Lektors Friedrich Burrichter, sowie des Metzenseifner Künstlers Helmut Bistika wird das Stück am kommenden Montag, dem 10. Juni aufgeführt. Die Premiere findet um 17 Uhr im Metzenseifner Kultursaal statt.

Für Sarah Neumann geht nach der Aufführung des Theaterstücks bald ihr einjähriges Projekt in Kaschau zu Ende. An der Existenz einer mantakischen Gemeinde in der Ostslowakei zweifelt sie nun nicht mehr. Von Mantaken und der Drachensage wird sie ihren Freunden nach der Heimkehr berichten können…



Theaterprobe

"Der Tod", den sich die Witwe herbeisehnt, geht nur in Erfüllung, wenn die Witwe den Drachen tötet...



Der Künstler Helmut Bistika hilft "dem Tod" auf die Sprünge...


Der Drache ist besiegt, die Bewohner von Metzenseifen sind in Feierlaune.




Mitwirkende: Sarah Neumann, Kulturweit-Freiwillige in Kaschau, Helmut Bistika, Künstler und Kunstpädagoge aus Metzenseifen, Friedrich Burrichter und Frank Steffen, deutsche Lektoren an zwei Kaschauer Gymnasien

Wer sich mit dem mantakischen Dialekt näher beschäftigen möchte:

PhDr. Gabriela Schleusener und Dr. sc. Heinz Schleusener haben dieses Jahr im Shaker Verlag das "Wörterbuch der deutschen Mundart in Metzenseifen" verfasst.

(hier online zu bestellen)

Und noch mehr Infos zu Mantaken und Metzenseifen gibt es hier.
Teilen

Mittwoch, 5. Juni 2013

Nacht der Museen


In der Nacht der Museen, die sich am 18. Mai ereignete, zeigte sich die Stadt Košice ganz von ihrer Schokoladenseite: vielfältig und multikulturell wie eh und je. Ich selbst erlebte nur einen winzig kleinen Auszug aus den zahlreichen Veranstaltungen, die sich von 17 bis 24 Uhr in den Museen und Galerien der Altstadt abspielten

Haus des Handwerks (Dom remesiel) auf der Töpferstraße

Töpferkurs

Ortswechsel in die Fleischerstraße (Mäsiarska) 35, in die Sándor Márai-Gedenkstätte: Während der „Nacht der Museen“ tauchte ein junger Mann tippend auf der Schreibmaschine, mit Anzug, Krawatte und Lackschuhen zurück in die Vergangenheit, in die Epoche des 1900 geborenen Sándor Márai.


In der Sándor Márai-Gedenkstätte

Der als Sándor Károly Henrik Grosschmid geborene Sohn eines Advokaten und späteren königlichen Vizenotares verließ Kaschau nach dem Ersten Weltkrieg und studierte in Leipzig Journalistik. In Frankfurt arbeitete er bei der „Frankfurter Zeitung“, bis es ihn ins Berlin der 1920er Jahre zog, wo er inmitten der literarischen Avantgarde-Szene und Kaffeehauskultur zu seiner schriftstellerischen Identität fand. 

1929 kehrte er nach einem langen Aufenthalt in Paris mit seiner jüdischen Frau Ilona (Lola) Matzner nach Ungarn zurück, wo er sich alsbald zum wichtigsten Schriftsteller seiner Generation entpuppte. Doch seine kritische Haltung gegenüber der ungarischen Regierung, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nationalsozialisten  kollaborierte, machte ihn zur „Persona non grata“ seines eigenen Landes, was ihn 1948 zur Emigration veranlasste. Sein Leben nahm ein tragisches Ende: 1989 beging er Selbstmord im amerikanischen Exil.

Ausweisdokument des Emigranten Sándor Márai
Das Gedenkzimmer auf der Fleischerstraße in Kaschau stellt persönliche Gegenstände des Schriftstellers aus. Das Elternhaus betrat er nach seiner Emigration jedoch nur noch als Besucher. Sándor Márai gilt heute als berühmtester Sohn der Stadt Kaschau. 

Ortswechsel in den Innenhof der Ostslowakischen Galerie (Východoslovenskágaléria). 

Hier spielte am Abend die Kapelle des Romathan Theaters Musik aus den 1920er Jahren.


Bevor ich tot ins Bett fiel, wagte ich noch einen Blick in die unterirdischen Ausstellungsräumlichkeiten des Archäologischen Museums auf der Hauptgasse (Hlavná) mit Ausgrabungen des „Unteren Tors“ (Dolná brána).  

Im unterirdischen Archäologischen Museum „Unteres Tor“ (Dolná brána) 
1290 bekam Kaschau erstmals das Privileg zum Bau einer Stadtbefestigung. Die Ausgrabungen im Museum stammen aus dieser Zeit. Auf die ursprüngliche Stadtfestung war man bei der Rekonstruktion des Innenstadtkerns 1996-98 Jahren gestoßen. 
 
Bild von Kaschau mit Stadtfestung


Teilen

Freitag, 31. Mai 2013

Use the City!


Im Mai summt und musiziert es im Kaschauer Kessel. Jeden Tag pünktlich um 8 Uhr weckt mich eine weibliche Stimme, die die Tonleiter herauf und herunter singt. Ihre morgendliche Aufwärmübung ist mir inzwischen heimisch und vertraut. Wenn ich mich auf meinen blauen Pegasus schwinge und über die Promenade sause, lausche ich mit gespitzten Ohren den sanften Klängen, die aus den Musikschulen durch die geöffneten Fenster drängen. Hier der Laut einer Geige, dort trötet eine Trompete.

 - Die ganze Stadt ist ein Musikkonzert! Ein Festival jagt das nächste. Im Rahmen des „Use the City Festivals“ spielten zwischen dem 22. und 24. Mai über 40 Bands in der Innenstadt. Zahlreiche Schauspieler und Künstler stellten ihr Können mitten auf der Fußgängerzone unter Beweis. Freitagabend standen an jeder Ecke auf der Hauptgasse, in den Hinterhöfen und Seitengassen kleine Zelte mit musizierenden Kapellen. Trotz des kühlen Regenwetters wiegten sich die Besucher mit seligem Lächeln im Rhythmus der Gitarren. 


Das „Use the City Festival“, welches in diesem Jahr zum fünften Mal in Folge stattfindet, bringt Kunst, Musik und Theater auf die Straße. Laien wie Profis treten auf öffentlichen Plätzen auf und binden die Besucher in ihre Performance mit ein. So hat auch die unabhängige Kaschauer Theatergruppe „Na peróne“ („Auf der Plattform”) gemeinsam mit dem französischen Ensemble „Là Hors De“ aus Lyon am Freitagabend auf mehreren Quadratkilometern ein interaktives Performancestück aufgeführt. Mit Masken tanzten sie auf Stühlen, zerrissen Bücher in Stücke. Es ging politisch zu: Von Sándor Márai über Zensur zum Exil. In dem Stück ging es um Vertreibung, Flucht, Migration und Menschenrechte.


In der nächtlichen Finsternis der Stadt mit düsterer Plattenbaukulisse folgten wir, die rund Einhundert Zuschauer, nichtsahnend einer Truppe Künstlern, die springend, kletternd und tanzend, ein riesiges Areal leerstehender Fabrikhallen für sich einnahmen.

Als anfänglich unbeteiligte Zuschauerin fand ich mich plötzlich in einem Eisengitterkäfig wieder, eingepfercht auf engstem Raum mit etlichen weiteren Besuchern, die sich alle dieselbe Frage stellten: Was geschieht mit uns? Wir alle trippelten wie kleine Schäfchen in einen Korridor, dessen Gitterwände sich urplötzlich vor uns verschlossen und uns zu Gefangenen machten. Die Schauspieler befanden sich unter uns. Quer verteilt in den Käfigen riefen sie im verzweifelten Tonfall nach Namen und fragten uns nach Personen, die wir nicht kannten. Etwas hilflos überließen wir uns dem Geschehen.

Wie ungemütlich es plötzlich geworden war, sich nicht mehr visuell berieseln zu lassen, sondern mittendrin in einem Theaterstück zu stecken, dessen Ausgang wir nicht kannten. 


Am Rande der Käfige standen „Wächter“ mit vermummten Gesichtern, die sich rhythmisch auf die Beine schlugen. Sie trugen Camouflagehosen, blickten stumm über ihre gefangene Meute hinweg und blitzten mit Taschenlampen in unsere Augen. Mit einem Satz sprangen sie wie wilde Tiere alle gleichzeitig an die Käfigwände. Alles verstummte und erzitterte. Dann strichen sie mit den Taschenlampen übers Eisengitter, sodass ein ohrenbetäubendes Getöse erklang. 

Wie einfach es gewesen ist, uns in die Falle zu manövrieren, dachte ich mir immer wieder. Dabei stieg mir eine Erinnerung vom Anfang der Woche wieder in den Sinn, die mir die Kehle zuschnürte…

Fotostrecke 

Das Performancestück "Step by Step" der beiden Theaterensembles "Na peróne" aus Kaschau und "Là Hors De" aus Lyon




 

Fotos: Tomáš Bachura / Košice2013

Teilen

Dienstag, 28. Mai 2013

Der Wagon auf Gleis 3


Neben den zahllosen Festlichkeiten ist der Monat Mai auch Anlass für eine beklemmende Rückblende. Er erinnert an ein Ereignis, welches sich vor 69 Jahren auf dem Bahnhof von Kaschau abgespielt hat. 

In jenem Monat begannen die Deportationen von über 15 000 Juden: am 16. Mai 1944 verließ der erste Transport den Bahnhof in Richtung Auschwitz. Es war der erste von insgesamt fünf Zügen. Binnen zwei Wochen galt die Stadt als „judenfrei“.

Genau vor solch einem Wagon stehe ich gerade hier auf Gleis 3. Es ist die Eröffnung einer besonderen Ausstellung der Stiftung „Pochod živých“ (zu Deutsch: „Marsch der Überlebenden“). Ilona Novák, die ungarische Projektleiterin und Kuratorin dieser Wanderausstellung reist seit 2007 in ihrem Land von Bahnhof zu Bahnhof. Mit dem Wagon erinnert sie an die Deportation der 430.000 ungarischen Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Kaschau gehörte zwischen 1938 und 1945 zu Ungarn und wurde am 18. März 1944 von den Nationalsozialisten besetzt. Zu jener Zeit lebten hier mehr als 12.000 Juden. Sie machten etwa ein Fünftel der Stadtbevölkerung aus. Aufgrund seiner geografischen Lage verwandelte sich die Stadt zum „Hauptumschlagplatz“: von den 145 Güterzügen mit ungarischen Juden, passierten 137 den Bahnhof von Košice. Zum ersten Mal nach 69 Jahren steht hier nun wieder ein solcher Wagen aus Ungarn auf dem Gleis. 

„Drei bis vier Tage dauerte der Transport. Mit 80-100 Personen pro Wagon, einem Eimer voll Wasser und einem Eimer für Exkremente,“ trägt Csaba Kende vor. Seine Sätze klingen mechanisch abgehackt.
Die Stimme des alten Mannes zittert. Er liest schnell, sein Blick haftet auf dem gedruckten Text. Seine Hände umklammern den Zettel. Nicht ein einziges Mal während seines Vortrags schaut er in die Menge. Nach dem Vortrag stellt er sich Schutz suchend hinter die anderen Redner: den Vizebürgermeister Ján Jakubov, die ungarische Generalkonsulin Éva Czimbalmosné Molnár, den Stiftungsvorsitzenden Gábor Gordon und weitere.

Mir scheint, als fühlte ich sein Herz beben. Man erahnt, wie schwer ihm der Auftritt gefallen sein muss. Auch seine Familie wurde in einem solchen Wagon nach Auschwitz deportiert. Der damals elfjährige Junge, konnte sich dank Nachbarn und Freunden bis zum Kriegsende versteckt halten. Rund 450 Überlebende kehrten nach 1945 zurück in ihre Heimat Košice.



Ich stehe in der ersten Reihe, halte mich an meinem Schreibblock und Fotoapparat fest. In meiner linken Hand nimmt das Diktafon die Vortragenden auf, ich selbst höre nur mit halbem Ohr zu. 

Angesichts dieses einfachen Holzwagons, der so unwirklich anmutend im Bahnhof am Gleis steht, werden die Erzählungen meiner Großmutter Valéria Forbatová mit einem Mal lebendig. Ich sehe Frauen und Kinder vor mir, wie sie brutal in den Viehwagon geschubst werden. Ängstlich umklammern sie ihr weniges Hab und Gut - das Einzige, was sie mitnehmen dürfen auf ihrem Weg in das "Arbeitslager“. Für meine Großmutter, mit ihren 19 Jahren noch eine junge Frau, waren es die letzten gemeinsamen Stunden mit den Eltern und ihrem Bruder.

Ihrer Erzählung nach passierte alles so plötzlich. Niemand habe gewusst, warum und wohin sie gebracht würden. Košice, sagte sie, sei in ihrer Jugend eine multikulturelle Stadt gewesen, in der sie sogar kurz vor Kriegsausbruch keine antijüdischen Ressentiments zu spüren bekam. In ihrem Elternhaus spielten an Freitagabenden, dem Vorabend des Sabbats, Freunde unterschiedlicher Nationen und Religionen Karten bis spät in die Nacht. Ihr Vater Samuel Karp war als Optiker stadtbekannt und auch bei Nichtjuden sehr geschätzt. Seine Augenoptik durfte er noch bis zum Frühjahr 1944 ohne Einschränkungen führen. – Was aufgrund den seit 1938 bestehenden antijüdischen Gesetzen eine Ausnahme darstellte. Aber Brillenmacher waren rar zu jener Zeit.

Wenige Wochen nach der Besetzung der Nazis, mussten alle Juden den Judenstern tragen. Ohne wirklich zu begreifen, was vor sich ging, schaffte meine Großmutter es gerade noch ein paar geliebte Andenken sicher bei ihren nicht-jüdischen Bekannten zu verstecken. Kurze Zeit später wurde sie mit ihrer Familie und rund 12.000 Menschen in zwei Ziegelfabriken auf der Moldauer Straße zusammengepfercht. Auf zwei Quadratmetern teilten sich jeweils zwei Familien einen Raum. In diesen standen je ein Kübel für ihre Notdurft. Fließendes Wasser gab es keines. Am 3. Juni 1944 kamen sie in den letzten Transportzug mit rund 2600 Personen nach Auschwitz. Das versprochene "Arbeitslager" erwartete sie dort nicht.



Die Lautsprecheransagen erhallen auf dem Bahnsteig und unterbrechen für einen kurzen Moment meine Gedanken. Wir sind wieder in der Realität, im Hier und Jetzt. Ich atme auf. Die Menge klatscht. Die Reden sind vorüber. Die Menschenmenge strömt zur Ausstellung in den Wagon. Etwas orientierungslos verbleibe ich noch ein paar Minuten auf der Plattform. Auf Gleis drei in Košice.

Nachtrag



Buchtipp: 
Michael Okroy: Kaschau war eine europäische Stadt. Ein Reise- und Lesebuch über die jüdische Kultur und Geschichte in Košice und Prešov. (Arco Verlag, slowakisch/deutsch)

Die bürgerschaftliche Initiative "Občania občanom" („Bürger für Bürger“) setzt sich dafür ein, bis zum Jahr 2014, dem 70. Jahrestag der Deportation der ungarischen Juden, ein Holocaust-Denkmal zu erbauen. Ein solches Monument fehlt bis heute in Košice.

Das einzige öffentliche Gedenkzeichen in Kaschau zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer befindet sich an der Außenwand der orthodoxen Synagoge auf der Puškin-Straße.



Teilen

Samstag, 25. Mai 2013

Treue Partner



Zwei Schnappschüsse in 1490 Kilometer Entfernung...*
  
Wuppertal war die erste Partnerstadt Kaschaus - die Zusammenarbeit entstand bereits in den 1970er Jahren. Die Städtepartnerschaft besteht offiziell seit dem 22. Mai 1980.

* Danke an den aufmerksamen Beobachter in der Partnerstadt!
Teilen

Montag, 20. Mai 2013

"Ordensträger guter Arbeit"


Unsere Tour beginnt an einem Eckhaus auf der Hauptgasse, an der Kreuzung zur Alžbetina Straße. Die Fenster sind mit Reklamen beklebt. An der zartrosanen Fassade sind noch die Abrissspuren des ehemaligen Straßenschildes „Leningasse“ deutlich zu erkennen. Es ist offenbar hastig nach der Revolution entfernt worden.  

Das Eckhaus ist jedoch noch aus anderen Gründen interessant. Auf einer kleinen Tafel hinter Plexiglas weist ein Foto aus dem Jahr 1989/90 darauf hin, dass hier die „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (slowakisch Verejnosť proti násiliu, Abk. VPN) und das Prager „Bürgerforum“ ihren regionalen Sitz innehatten. Die im November 1989 gegründete VPN war die zentrale slowakische Oppositionsbewegung gegen das kommunistische Regime zur Zeit der Revolution.

Weiter geht es über den Dominikanerplatz in Richtung Mäsiarska. An der Fassade mit der Hausnummer 32 treffen wir auf eine Tafel mit der Aufschrift „Robotnicky Dom“- Haus der Arbeiter. Wir laufen in Richtung Nordstadt bis zum Torbogen der ehemaligen Tabakfabrik auf der Strojárenská 1. Über dem Eingangstor zum Innenhof des Gebäudekomplexes, welches von der Kaschauer Bevölkerung liebevoll „Tabačka“ genannt wird, erkenne ich den Abdruck des roten Sterns. Merkwürdig, welche Ausstrahlung diese Zeichen haben, die so hastig entfernt werden mussten. Für einen Neuanstrich war dann aber kein Geld mehr…

Wir kehren zurück ins Zentrum entlang der Kováčska (Schmiedergasse), einer Parallelstraße der Hauptgasse, und machen Halt auf der Zvonárska (Glockengasse) 15. Dort finden wir eine Tafel zum Gedenken an den ungarischen Kommunisten Aladár Komját. “In diesem Haus wurde am 11. Februar 1891 der bedeutende, ungarische kommunistische Dichter, Publizist und Revolutionär und Internationalist geboren,“ ist in Großbuchstaben geschrieben. Das schmale Gesicht der Skulptur auf der Tafel und die eingefallenen Augenhöhlen erinnern mich an Giacomettis Bronzeköpfe.

Wenige Schritte entfernt von einer Glocke, schlendern wir durch das mediterrane Flair der Glockengasse. Der nur wenige Meter breite gepflasterte Weg wird gesäumt von pastellfarbenen Häusern aus dem 19. Jahrhundert und der orthodoxen Synagoge aus dem Jahr 1883. Es ist die älteste erhaltene Synagoge Kaschaus. Wir befinden uns im Zentrum des ehemaligen jüdischen Viertels. Auf der Terrasse der Café-Bar „Smelly Cat“ sitzen Krawattenträger mit aufgeschlagenen Zeitungen, ein Trio junger Frauen schlürft ausgelassen an den Strohhalmen ihrer Limonaden. Ein Hauch von Italien oder Südfrankreich umgibt uns und fast wären wir vorbeigelaufen, an den wenig einladenden Vitrinen der Kneipe „Nositel Radu Práce“ - frei übersetzt: "Ordensträger guter Arbeit".


Als wir eintreten in den dunklen Raum, schwebt uns der bleierne Geruch von Bier und Zigarettenqualm entgegen. Meine Augen müssen sich zunächst an das Dunkel gewöhnen. Es ist, als betreten wir eine andere Welt. Ein einsamer Mann mit Schnurrbart sitzt seit sichtlich geraumer Zeit an seinem halbvollen Rotweinglas, den Kopf gestützt auf seinem rechten Ellenbogen. Mit melancholischem Blick hängt er mit seinen Gedanken im Raum, ohne uns zu bemerken. Über ihm an einer Wand ist ein Plakat mit Liedtext und Noten der "Internationale" befestigt, offensichtlich ein Mitbringel aus einer Schule. Daneben hängen Bilder der tschechoslowakischen Präsidenten: Beneš, Gottwald, Zápotocký, Novotoný, Svoboda, Husák und Havel.

Eine Gruppe Männer unterhält sich derweil im Nebenraum angeregt unter bunten Postern von Marx und Engels. Auch sie lassen sich von unserem Besuch nicht stören. Mein Begleiter bemerkt schmunzelnd, wie mir die Kinnlade herunterfällt angesichts der im Raum drapierten Gasmasken und sowjetischen Soldatenuniformen. Selbst die Damentoilette hält Einzug einer roten Fahne.

Die Kellnerin hinter der Theke verkauft uns einen Orangensaft und ein Bier für 80 Cent und erzählt uns, dass diese Kneipe erst seit 2000 existiert. Seither bestücken die Bewohner sie mit nostalgischer Hingabe mit gesammelten Andenken aus dem Eigenheim. Das Ordnungsamt schaut zwar ab und zu vorbei, lässt den Eigentümer aber in Ruhe. Die Verwendung und Verbreitung sichtbarer kommunistischer wie faschistischer Symbole ist bis zu mehrjähriger Haft strafbar, doch „aus Spaß dürfen sie in der Kneipe hängen“, sagt uns die Kellnerin. Ob auch die Stammgäste hier nur aus „Spaß“ einkehren, ist zu bezweifeln. Was zudem ein Bild von Georg W. Bush jr. und seiner Ehefrau mit persönlicher Widmung in der Bar zu suchen hat, konnten wir bis heute nicht genau klären…



Weiß jemand Näheres zu den Gedenkstafeln? Ich freue ich mich auf Kommentare auf diesem Blog oder E-Mails an forbat@kulturforum.info.
Teilen