Es klopft an der Tür zum Büro des
Direktoriums der privaten Schule im Kaschauer Stadtteil Nad jazerom. Die
Schuldirektorin seufzt. Es ist bereits das dritte Mal innerhalb fünf Minuten.
„Heute ist hier wirklich Tag der offenen Tür“, zischt Anna Koptová und ruft:
„Herein!“
Als sie die Person in der Tür erblickt,
erhellt sich ihr Ausdruck. „Ah Peter, du bist es!“ Ein junger Mann im schwarzen
Pullunder und sorgfältig gebügeltem Hemd betritt den Raum. Stolz legt er ein
dunkles Buch auf den Tisch. Es ist seine druckfrische Magisterarbeit in
Katholischer Theologie. Ich erhasche einen Blick auf den Buchdeckel: „Matthäusevangelium“
steht dort in goldenen Lettern. Anna Koptová nimmt die Abschlussarbeit behutsam
in die Hände, guckt dabei mit leuchtenden Augen abwechselnd zu ihrem ehemaligen
Schüler und dann auf den vergoldeten Titel.
- Eine scheinbar banale
Situation, der ich zufällig Zeuge werde. Für die beiden aber ist es ein
historischer Moment. Denn Peter Gazi, ein angehender Priester, und Anna Koptová,
die Schuldirektorin, sind beide slowakische Roma. Der 26-Jährige ist vermutlich
der erste, der eine Übersetzung des Matthäusevangeliums in Romani, seiner
Muttersprache, zu Stande gebracht hat.
Er zählt zu den wenigen Roma, die
in der Slowakei eine akademische Laufbahn eingeschlagen haben. Wie viele es
tatsächlich sind, kann keiner genau sagen. Slowakische Behörden führen darüber
angeblich keine Statistiken. „In den letzten 60 Jahren können Sie die Studenten
mit Roma-Hintergrund an ein paar Händen abzählen“, sagt Anna Koptová. Peter Gazi gehörte zum ersten
Abschlussjahrgang des privaten Gymnasiums . „Allein schon für diesen
jungen Mann ist es das wert gewesen diese Schule zu eröffnen“, wendet sich die Direktorin an mich.
Obwohl Roma in der Slowakei etwas
weniger als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, landen bis zu 85
Prozent der Kinder in Sonderschulen und –klassen für Schüler mit "leichter
geistiger Behinderung". Mit der Einschulung in die Sonderschule beginnt der Teufelskreis: welcher Betrieb stellt einen Sonderschüler ein? Und ohne Abitur rückt das Hochschulstudium in weite Ferne.
Im September 2012 entschied erstmalig ein
slowakisches Bezirksgericht im Nordosten des Landes, dass die Einrichtung von
Sonderschulklassen für Roma-Kinder an einer Grundschule diskriminierend sei. Viele
Schulen verlauten dagegen, das Lernniveau zwischen Roma-Kindern und der
Mehrheitsbevölkerung sei zu unterschiedlich, weshalb es unmöglich sei die
Kinder gemeinsam zu unterrichten. Roma-Schüler kämen ohne Arbeitsmaterial in
die Schule und ihre Körperhygiene läge weit unter der gesellschaftlich
verträglichen Norm.
Anna Koptová sagt, sie könne gut
verstehen, wenn Eltern nicht wollen, dass ihr Schützling neben einem schmutzigen,
von Flöhen befallenen „Zigeuner-Kind“ sitzt. „Aber was wollen wir denn von diesen
Kindern erwarten, wenn sie in einem Viertel ohne fließend Wasser und
Elektrizität leben?“
An ihrer kleinen Privatschule, das
aus der Stiftung „Good Romani Fairy Kesaj Village Foundation“ (slowakisch
Nadacia Dobrá romská víla Kesaj) hervorgeht, kommen so gut wie alle
Schüler aus dem Roma-Ghetto Lunik IX. Nach der Musik- und Kunstschule („Konzervátorim Exnárová“)
in Košice, die 1991 etabliert wurde, entstand ihr Gymnasium 2003 als zweite
Schule in der Ostslowakei, an der auch auf Romani unterrichtet wird. An Anna
Koptovás Gymnasium wurden vor zehn Jahren in einem Pilotprojekt Schulmaterialen
auf Romani und ein Lehrplan für Romanesische Sprache und Literatur entwickelt.
In den letzten fünf Jahrgängen haben 60 Roma die Schule mit Hochschulreife
verlassen. - Eine vergleichsweise hohe Anzahl für ein Gymnasium in der Slowakei. Jana Tesserová, die ehemalige Direktorin des städtischen Gymnasiums Šrobárka in Košice erinnert sich nur an 5-7 Roma-Abiturienten in ihrer 16-jährigen Direktorslaufbahn.
Grundschule und Gymnasium auf der "Galactická" |
Doch der kleinen Privatschule, die ironischerweise auf der „Galaktischen Straße“ liegt, mangelt es akut an finanziellen
Mitteln: auf den Toiletten tropft der Wasserhahn, Türgriffe hängen lose in
schief hängenden Türen und die mobiliare Ausstattung ist auf das Minimalste
reduziert. Der staatliche Zuschuss berechnet sich nach der Anzahl der Schüler
und diese ist in diesem Jahrgang mit insgesamt 65 Gymnasiasten wahrhaftig sehr
gering.
Pavol Ičo nimmt mich mit in seinen Englischunterricht.
Der junge Mann ist eigentlich Sprachwissenschaftler. Zwar hat er bereits jahrelang als Englisch-Übersetzer gearbeitet, doch für seine Lehrtätigkeit holt er noch das benötigte Diplom in Pädagogik nach. 17 Schüler aus der 5.Klasse stellen sich mir vor: „My name is Maria.
I am Slovak and I am from Kosice“, sagt ein kleines Mädchen mit dunkler langer
gelockter Mähne und Piercing in der Nase.
Die
Mädchen tragen große Reifenohrringe, diese scheinen momentan im Trend
zu sein. Nachdem sich die Schüler vorgestellt haben, erzähle ich ihnen auf Englisch
von Hamburg: vom Hafen, von Schiffen und der Elbe. Doch das alles scheint selbst
mir an diesem Ort weit weg zu sein. Fasziniert lauschen die Kinder meinen
Worten und folgen mit den Augen jede meiner Regungen. – Hier bin ich die
Fremde. Für Pavol Ičo hingegen ist es schwer, seine Schüler zu bändigen. Cindy
spielt pausenlos an ihrem Handy. Richard, ein wesentlich älterer Junge, lässt
sich zu keiner einzigen Beteiligung ermuntern.
Als wir am Ende der Schulstunde den
Klassenraum verlassen, wundere ich mich, dass der Lehrer die abgewetzten Hefte wieder
einsammelt. „Das Schulmaterial können wir den Kindern nicht mitgeben, die wären
nach einer Woche völlig zerschlissen oder gar verschwunden. Eigentlich müssten
die Eltern für die Schulbücher aufkommen, das tun sie aber nicht. Deswegen stellt
die Schule ihnen die Bücher. Kopien zerreißen oder zerkrümeln sie sofort. Das
ist eben ihre Mentalität. Da kann man nichts machen, “ erklärt er mit einem
Schulterzucken... Nachdem mich Pavol Ičo vor dem Lehrerzimmer verabschiedet,
rufen Maria und ihre Freundinnen auf Wiedersehen und winken mir noch lange durch
den Flur hinterher. Auf dem Heimweg frage ich mich, ob die lockige Maria es bis
zur Hochschulreife schaffen wird.
Wieder zuhause lässt mich Anna
Koptovás Bemerkung über Statistiken der Roma-Abiturienten in der Stadt nicht
los. Nachdem ich mich am nächsten Morgen durch etliche Warteschleifen der
Kaschauer Verwaltungen telefoniere, setzt mich eine Dame der Schulbehörde
darüber in Kenntnis, dass eine nach Ethnien unterteilte Statistik, laut dem
neuen Antidiskriminierungsgesetz, verboten sei, und wozu ich das denn überhaupt
wissen wolle. Rumms. Das Telefonat ist beendet.
Peter Gazis Worte von gestern zur
Bildungssituation der Roma hallen in meinen Ohren nach: „Es ist so eine tickende
Bombe, und ich habe das Gefühl, einige warten nur darauf, dass sie explodiert.“
-
Ich hoffe der Staat nimmt bald
Abschied von seiner „Sonderschul-Abschiebemethode“. Schließlich weiß das Land jetzt
schon jetzt nicht mehr, wohin mit all seinen „mental retardierten“ Bürgern…
Auf der Internetseite eines Kaschauer Gymnasiums stoße ich auf folgendes Sprichwort: Gibst du einem Mann einen Fisch, nährt er sich
einmal. Lehrst Du ihn das Fischen, nährt er sich ein ganzes Leben. (Lao-Tse, 480-390 n. Chr.) - Den Schwierigkeiten zum Trotz ist die Privatschule auf der Galaktischen Straße ein Lichtblick für die Ausbildung der Roma in der Slowakei.
Das Schulsystem in der Slowakei
In der Slowakei besteht
zehnjährige Schulpflicht. Die Schüler gehen in den meisten Fällen auf eine
neunjährige Grundschule. Nach dem erfolgreichen Abschluss des 9. Schuljahres
können sie an einer vier- bis fünfjährigen „Mittelschule“ (Gymnasium) das
Abitur absolvieren und im Anschluss studieren. Neben der akademischen Laufbahn
gibt es, ähnlich wie im deutschen Schulsystem, weiterführende fachbezogene
Schulen, an denen Schüler eine Lehre machen.
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