„Ko
kerďas peskere kherutne buťa?", fragt Anna Koptová mit herausforderndem
Blick. Wer hat seine Hausaufgaben gemacht, lautet die Frage auf Romani. Die
Lehrerin beugt sich zu den Schülern vor, beide Arme auf die Tischkante
gestützt. Mit hochgezogenen Augenbrauen späht sie erwartungsvoll über ihre
Brillenränder. Dann huscht ein Lächeln über ihr
Gesicht.
Die
Schüler wissen, dass die Frage nicht ganz ernst
gemeint ist. Schließlich sind sie freiwillig
hier. Durch das offene Fenster scheint die Sonne, die sich nach einem
gewittrigen Tag durch die graue Wolkendecke gekämpft hat. Es war das erste
Wärmegewitter des Jahres. Nun durchflutet der Sonnenschein den Kellerraum des
Instituts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften.
Ich
sitze in der hintersten Reihe des Klassenraumes und erlebe ein seltenes
Spektakel: Fünf berufstätige slowakische Muttersprachler drücken an diesem Nachmittag die Schulbank. Sie lernen Romani,
die Sprache der Roma. Nicht nur für ihre Schüler, auch für Anna Koptová ist
dieser Sprachkurs eine kleine Sensation. Er wird im Rahmen des überregionalen
Förderprogramms Regsom-Regszom durch den EU-Regionalfonds (EFRE) finanziert. Für
die Kursteilnehmer ist er kostenlos.
„Was
haben Sie heute gegessen, Ondrej?“, fragt die Lehrerin auf Romani und richtet
sich an den großen, hageren blonden Mann in der ersten Bank. Er hebt den Blick,
lässt einen leisen Seufzer verlauten. „Gemüse….ähm…Reis…und...Olivenöl, “
presst er hervor. Sehr viel mehr kann Ondrej
noch nicht sagen. Seit Februar erscheint er zweimal wöchentlich pünktlich um
16:30 Uhr zur Stunde.
Nach und nach bereitet die Lehrerin gemeinsam mit Ondrej das
Mittagessen mit weiteren Vokabeln zu, bis eine reichhaltigen Mahlzeit
aufgetischt ist: „Más heißt Fleisch, jandro heißt Ei. Ciral heißt Käse, kann aber
auch Quark bedeuten“, erklärt sie. Wie so oft hat ein slowakisches Wort gleich
mehrere Bedeutungen auf Romani. Die Schüler schreiben fleißig mit.
Nun
geht das Wort an Peter, der seine Erlebnisse dieser Woche schildern soll. Der
junge Mann ist Pfarrer in einer kleinen Gemeinde bei Košice mit einem hohen
Roma-Bevölkerungsanteil. Durch seine Arbeit hat er bereits gute Vorkenntnisse
der Fremdsprache. Doch nun scheitert er bei seiner Erzählung über einen Rollstuhlfahrer
am entsprechenden Gefährt. „Hmm, verdan für Rollstuhl passt an dieser Stelle
nicht“, unterbricht ihn die Lehrerin. „Wissen Sie, die Sprache der Roma ist in
einer Zeit entstanden, als diese noch mit ihren Pferdewagen umherzogen.
Rollstühle gab es damals noch nicht, “ sagt Koptová. „Sagen Sie doch „mašina“
oder helfen Sie sich mit einem Wort aus dem Slowakischen– das machen die Roma
hierzulange genauso.“
Normalerweise
unterrichtet die Schuldirektorin Kinder einer kleinen Privatschule im Stadtteil
Nad jazerom, einem Siedlungsgebiet am äußeren Rand der Stadt. Die Kinder ihrer
Schule kommen aus sozialschwachen Familien und leben fast ausschließlich in der
berüchtigten Ghettosiedlung Lunik IX. Dass die Direktorin für den Sprachkurs die ganze Stadt per Tram durchqueren
muss, macht ihr nichts aus. Für sie ist es ein großer
Erfolg, dass sie überhaupt unterrichten kann. In der kommunistischen Ära
war die Förderung von Minderheitensprachen, darunter Roma und Deutsch, verboten, bzw. nicht von staatlichem Interesse.
Die
meisten der 10 Kursteilnehmer treibt nicht etwa Neugier oder Nostalgie, sondern
die pure Notwendigkeit hierher. Als Lehrer, Sozialarbeiter oder Polizisten
stoßen sie in der Interaktion mit Roma aufgrund
von sprachlichen Barrieren oft an ihre Grenzen.
Die
Roma-Kinder in Peters Gemeinde sprechen nur ein paar Brocken Slowakisch. „Bei
meiner täglichen Arbeit mit der lokalen Bevölkerung ist es einfach witzlos,
wenn ein Dolmetscher übersetzen muss“, erklärt der Pfarrer. Auch die restlichen
Teilnehmerinnen hat der Arbeitgeber auf den Sprachkurs aufmerksam gemacht.
Nur
den hageren Ondrej treibt eine andere Motivation hierher. Er höre die
Sprache der Roma täglich in der Straßenbahn, ohne sie zu verstehen. „Wir leben
hier in zwei Kommunen nebeneinander und können so wie gar nicht miteinander
kommunizieren.“ Mit der neu erlernten Sprache will Ondrej „Brücken bauen“
zwischen den Kommunen. Neulich erst rief er einer Gruppe Straßenmusikanten auf
Romani zu „Toll, weiter so!“. Den Geigern fiel die Kinnlade herunter. Und der
große, hagere Ondrej wuchs noch ein kleines bisschen höher.
Wenige
Stunden nach dem Kurs erhalte ich eine lange Mail von Ondrej, in der er mir
schreibt: „Wenn du einen Menschen in seiner Muttersprache ansprichst, öffnet
sich dir der Weg zu seiner Seele.“ Ich antworte ihm auf Slowakisch mit dem
beliebten Sprichwort meiner Mutter: „Je mehr Sprachen du sprichst,
desto mehr bist du Mensch.“
Die Sprache der Sinti
und Roma
Romani
hat rund sechs Millionen Sprecher weltweit, davon allein 4,5 Millionen in Europa.
Gemeinsam mit Sprachen wie Urdu und Hindi, gehört Romani zur indoarischen
Sprachfamilie. Die Selbstbezeichnung der Roma (Rom „Mann“ oder „Ehemann“) ist
indischen Ursprungs. Rom leitet sich möglicherweise aus dem Begriff Dom ab, dem
Namen einer niedrigen Kaste von Wanderarbeitern (Musiker, Gaukler, Korbmacher,
u.ä.).
Seit
mehr als 800 Jahren hat sich Romani unabhängig von indischen Sprachen
weiterentwickelt. Bis heute sind rund 700 Wörter indischen Ursprungs erhalten.
In Europa haben sich zahlreiche Dialekte des Romani entwickelt, die sich von
Region zu Region unterscheiden.
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